(Ebook - German) Pratchett, Terry - Scheibenwelt 041 - Kurzgeschichten.pdf

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Das Meer und kleine Fische
Der ganze Ärger begann, und das nicht zum erstenmal, mit einem Apfel.
Ein ganzer Sack davon lag auf dem ausgebleichten und fleckenlosen
Tisch von Esme Wetterwachs. Rot und rund, glänzend und fruchtig -
wenn sie die Zukunft gekannt hätten, hätten sie ticken müssen wie
Bomben.
"Behalt sie alle, der alte Hopcroft hat gesagt, ich kann so viele
haben, wie ich will", sagte Nanny Ogg. Sie warf ihrer Hexenschwester
einen scheelen Blick zu. "Köstlich, ein wenig runzlig, aber verdammt
haltbar."
"Er hat einen Apfel nach dir benannt?" fragte Oma. Jedes Wort war
ein saurer Tropfen in der Luft.
"Wegen meinen rosigen Wangen", sagte Nanny Ogg. "Und ich hab
sein Bein geheilt, als er letztes Jahr von der Leiter gefallen ist. Und ich
hab ihm eine Tinktur für seinen Kahlkopf gebraut."
"Aber die hat nicht geholfen", sagte Oma. "Diese Perücke, die er
trägt, die ist scheußlich anzusehen bei einem Mann, der noch lebt."
"Aber es hat ihn gefreut, daß ich mich dafür interessiert habe."
Oma Wetterwachs ließ den Sack nicht aus den Augen. Obst und
Gemüse wuchsen fabelhaft bei den heißen Sommern und kalten
Wintern in den Bergen. Percy Hopcroft war der beste Züchter und
definitiv ein leidenschaftlicher Mann, wenn es um sexuelle Eskapaden
mit einem Kamelhaarpinsel im Gartenbau ging.
"Er verkauft seine Apfelbäume überall", fuhr Nanny Ogg fort.
"Komisch, was, wenn man sich vorstellt, daß ziemlich bald Tausende
Leute Nanny Ogg vernaschen können."
"Weitere Tausende", sagte Oma spitz. Nannys wilde Jugend war ein
offenes Buch, wenn auch nur mit einem unscheinbaren Einband
erhältlich.
"Danke, Esme." Nanny Ogg sah einen Moment sehnsüchtig drein
und öffnete dann den Mund in spöttischer Besorgnis. "Oh, du bist doch
nicht etwa eifersüchtig, Esme, oder? Du mißgönnst mir meinen kurzen
Augenblick im Sonnenschein nicht?"
"Ich? Eifersüchtig? Warum sollte ich eifersüchtig sein. Es ist nur
ein Apfel. Nicht, daß es etwas Wichtiges wäre."
"Das dachte ich mir auch. Nur ein bißchen Firlefanz, um einer alten
Dame zu schmeicheln", sagte Nanny. "Und wie steht es so bei dir?"
"Prima. Prima."
"Hast du dein Winterholz schon beisammen?"
"Größtenteils."
"Gut", sagte Nanny. "Gut."
Sie saßen schweigend beieinander. An der Fensterscheibe flatterte
tanzend ein Schmetterling, den die für die Jahreszeit ungewöhnliche
Wärme geweckt hatte, um hinaus in die Septembersonne zu gelangen.
"Deine Kartoffeln ... hast du sie schon geerntet?" fragte Nanny.
"Ja."
"Wir hatten dieses Jahr eine gute Ernte."
"Gut."
"Hast du deine Bohnen schon eingesalzen?"
"Ja."
"Ich gehe davon aus, du freust dich schon auf den Wettstreit nächste
Woche?"
"Ja."
"Ich nehme an, du hast geübt?"
"Nein."
Nanny hatte den Eindruck, als würden die Schatten in den Ecken
des Zimmers trotz der Sonne dunkler werden. Die Luft selbst wurde
dunkler. Die Hütte einer Hexe ist empfänglich für
die Stimmung ihrer Besitzerin. Aber sie ließ sich nicht beirren. Narren
stürmen drauflos, aber im Vergleich mit kleinen alten Damen, die
nichts mehr zu fürchten haben, sind sie lahme Enten.
"Kommst du am Sonntag zum Essen?"
"Was kochst du?"
"Schweinefleisch."
"Mit Apfelsoße?"
"Ja -"
"Nein", sagte Oma.
Ein Quietschen ertönte hinter Nanny. Die Tür war aufgeschwungen.
Jemand, der keine Hexe war, hätte nach einer logischen Erklärung
gesucht, hätte gesagt, daß es natürlich nur der Wind war. Und Nanny
Ogg war durchaus bereit, diesem Beispiel zu folgen, aber sie hätte
hinzugefügt: Warum war es nur der Wind, und wie hatte es der Wind
geschafft, den kleinen Riegel zu öffnen?
"Oh, nun ja, ich kann nicht den ganzen Tag hier sitzen und
plaudern", sagte sie und stand rasch auf. "Um diese Jahreszeit ist
immer viel los, nicht wahr?"
"Ja."
"Dann geh ich mal."
"Wiedersehen."
Der Wind blies die Tür wieder zu, als Nanny den Weg hinunter lief.
Sie hatte den Eindruck, daß sie möglicherweise ein wenig zu weit
gegangen war. Aber nur ein wenig.
Das Problem daran, eine Hexe zu sein - zumindest das Problem
daran, eine Hexe zu sein, soweit es manche Leute betraf -, war einfach,
daß man hier auf dem Land festsaß. Aber Nanny machte das nichts aus.
Hier draußen gab es alles, was sie wollte. Alles, was sie immer gewollt
hatte, war hier, allerdings waren ihr in ihrer Jugend manchmal die
Männer knapp geworden. Es war ganz schön, fremde Gegenden zu
besuchen, aber wirklich von Bedeutung waren sie nicht. Es gab interes-
sante neue Getränke, und das Essen machte Spaß, aber fremde
Gegenden besuchte man, um zu tun, was eben getan werden mußte,
und dann kam man wieder hierher zurück, an
einen Ort, der real war. Nanny Ogg liebte es klein und beschaulich.
Natürlich, überlegte sie, als sie über den Rasen ging, hatte sie nicht
diese Aussicht vor dem Fenster. Nanny lebte unten im Ort, aber Oma
konnte über den Wald und die Ebenen bis zum weiten runden Horizont
der Scheibenwelt sehen.
Eine derartige Aussicht, überlegte sich Nanny, konnte einem
wahrscheinlich den Verstand direkt aus dem Kopf saugen.
Man hatte ihr gesagt, daß die Welt rund und flach war, was dem
gesunden Menschenverstand entsprach, und auf dem Rücken von vier
Elefanten durch das All zog, die auf dem Rücken einer Schildkröte
standen, was nicht unbedingt einen Sinn ergeben mußte. Das alles
passierte DA DRAUSSEN irgendwo, und so konnte es mit Nannys Segen
und ausgesprochener Interesselosigkeit auch bleiben, solange sie in
einer persönlichen Welt mit einem Durchmesser von rund zehn Meilen
leben konnte, die sie mit sich herumschleppte.
Aber Esme Wetterwachs brauchte mehr, als dieses kleine Königreich
fassen konnte. Sie war die andere Art Hexe.
Und Nanny sah es als ihre Aufgabe an, zu verhindern, daß sich Oma
Wetterwachs langweilte. Die Sache mit den Äpfeln war ziemlich
unbedeutend, ein garstiger kleiner Triumph, wenn man es recht
überlegte, aber Esme brauchte etwas, um jeden Tag lebenswert zu
machen, und wenn es Zorn und Eifersucht sein mußten, dann sollten
sie es eben sein. Oma würde nun etwas aushecken, um sich einen
kleinen Sieg zu verschaffen, eine kleine Demütigung, von der nur sie
beide je erfahren würden, und damit war der Fall erledigt. Nanny war
überzeugt, daß sie mit ihrer Freundin zurechtkommen konnte, wenn sie
übellaunig war, aber/nicht, wenn sie sich langweilte. Eine Hexe, die
sich langweilt, ist zu allem fähig.
Die Leute sagten Sachen wie "damals mußten wir selbst für unsere
Unterhaltung sorgen", als würde das einen gewissen moralischen Wert
vermitteln, was vielleicht sogar zutraf, aber man wollte auf keinen Fall,
daß sich eine Hexe langweilte und anfing, für ihre eigene Unterhaltung
zu sorgen, denn Hexen hatten manchmal äußerst exzentrische Vorstel-
lungen davon, was unterhaltsam war. Und Esme war zweifellos
die mächtigste Hexe, die die Berge seit Generationen gesehen hatten.
Nun stand der Wettstreit bevor, und der sorgte stets dafür, daß es
Esme Wetterwachs ein paar Wochen lang gutging. Sie sprach auf
Wettbewerbe an wie Forellen auf Fliegen.
Nanny Ogg freute sich immer auf den Hexenwettstreit. Man
verbrachte einen schönen Tag draußen, und dann war da natürlich das
große Freudenfeuer. Wer hätte je von einem Hexenwettstreit ohne ein
anschließendes schönes Freudenfeuer gehört?
Und hinterher konnte man Kartoffeln in der Asche rösten.
Der Nachmittag zerschmolz zum Abend, die Schatten in Ecken und
unter Hockern und Tischen krochen hervor und wuchsen zusammen.
Oma wippte leicht mit ihrem Stuhl, während sich die Dunkelheit um
sie legte. Ihr Gesichtsausdruck war zutiefst konzentriert.
Die Scheite im Kamin zerfielen zu Glut, die nach und nach erlosch.
Die Nacht wurde schwärzer.
Die alte Uhr auf dem Kaminsims tickte, und eine ganze Zeitlang war
kein anderes Geräusch zu hören.
Dann ertönte ein leises Rascheln. Die Papiertüte auf dem Tisch
bewegte sich und wurde zusammengeknüllt wie ein Ballon, aus dem
die Luft entweicht. Langsam stieg ein deutlicher Fäulnisgeruch in die
Luft.
Nach einer Weile kam die erste Made herausgekrochen.
Nanny Ogg war zu Hause und schenkte sich gerade ein Glas Bier ein,
als es klopfte. Sie stellte den Krug seufzend beiseite und ging die Tür
aufmachen.
"Oh, hallo, meine Damen. Was treibt ihr in dieser Gegend? Und
obendrein an einem so kühlen Abend?"
Nanny ging ins Zimmer zurück, gefolgt von drei weiteren Hexen. Sie
trugen die schwarzen Mäntel und spitzen Hüte, die traditionsgemäß mit
ihrem Beruf in Verbindung gebracht werden, in diesem Fall aber dazu
dienten, daß jede anders aussah. Mit
nichts kann man seine Individualität besser zum Ausdruck bringen, als
mit einer Uniform. Einmal hier gezupft und einmal da gekniffen, das
schafft kleine Einzelheiten, die in scheinbarer, nun, Uniformität um so
augenfälliger sind.
Der Hut von Gammer Beavis beispielsweise hatte eine sehr flache
Krempe und eine Spitze, mit der man sich das Ohr hätte säubern können.
Nanny mochte Gammer Beavis. Sie war vielleicht ein wenig zu gebildet,
was man ihr beim Sprechen manchmal deutlich anmerkte, aber sie
reparierte ihre Schuhe selbst und schnupfte Tabak, und in Nanny Oggs
bescheidener Weltsicht bedeutete das, daß jemand IN ORDNUNG war.
Die Kleidung des alten Mütterchens Dismass hatte das unordentliche
Aussehen von jemandem, der wegen einer Netzhautablösung in seinem
zweiten Gesicht gleichzeitig in einer Vielzahl von Zeiten lebte. Bei
normalen Menschen ist geistige Verwirrung schon schlimm genug, aber
viel schlimmer ist es, wenn der Verstand einen okkulten Touch hat. Man
konnte nur hoffen, daß sie lediglich ihre Unterwäsche auf der Oberklei-
dung trug.
Nanny wußte, daß es immer schlimmer mit ihr wurde. Manchmal
hörte man ihr Klopfen an der Tür schon Stunden bevor sie eintraf. Ihre
Fußabdrücke tauchten dafür erst Tage später auf.
Beim Anblick der dritten Hexe überkam Nanny Niedergeschlagenheit,
aber nicht, weil Lätizia Ohrwurm eine böse Frau war. Sogar ganz im
Gegenteil. Sie wurde als anständig, wohlmeinend und gütig betrachtet,
zumindest von weniger aggressiven Tieren und von Kindern der
sauberen Variante. Und sie erwies einem immer einen guten Dienst. Das
Problem war, sie erwies einem auch dann einen guten Dienst, wenn
dieser gute Dienst nicht gut für einen war. Am Ende war man geistig
ziemlich bedient, und das war nicht gut.
Und sie war verheiratet. Nanny hatte persönlich nichts dagegen, daß
Hexen verheiratet waren. Es war nicht so, als gäbe es Regeln in dieser
Hinsicht. Sie selbst hatte viele Männer gehabt, und mit dreien war sie
sogar verheiratet gewesen. Aber Herr Ohrwurm war ein pensionierter
Zauberer mit einer verdächtig großen Menge Gold, und Nanny
argwöhnte, daß Lätizia die
Zauberei betrieb, um sich zu beschäftigen, etwa so, wie andere Frauen
einer gewissen Schicht Knieschoner für die Kirche sticken oder die
Armen besuchen mochten.
Und sie hatte Geld. Nanny hatte kein Geld und war deshalb
prädestiniert dafür, andere nicht zu mögen, die es hatten. Lätizia besaß
einen derart feinen schwarzen Samtmantel, daß er aussah, als sei ein
Loch in die Welt geschnitten worden. Nanny nicht. Nanny wollte
keinen feinen Samtmantel und strebte nicht nach derlei Dingen. Also
sah sie nicht ein, warum andere Leute sie haben sollten.
"Abend, Gytha. Wie geht's dir denn so?" fragte Gammer Beavis.
Nanny nahm die Pfeife aus dem Mund. "Fit wie eine Fiedel. Kommt
rein."
"Ist dieser Regen nicht furchtbar?" sagte Mütterchen Dismass.
Nanny sah zum Himmel, der frostig purpurn war. Aber wahrscheinlich
regnete es gerade, wo Mütterchens Geist weilte.
"Dann komm rein und trockne dich ab", sagte sie freundlich. "Mögen
Glückssterne über dieser unserer Versammlung leuchten", sagte
Lätizia. Nanny nickte verständnisvoll. Lätizia hörte sich immer an, als
hätte sie ihre Hexenkunst aus einem nicht sehr phantasievollen Buch
gelernt. "Ja, richtig", sagte sie.
Es folgte höfliches Geplauder, während Nanny Tee und Gebäck
bereitstellte. Dann sagte Gammer Beavis in einem Tonfall, der eindeutig
besagte, daß der offizielle Teil des Besuchs begann:
"Wir sind hier als das Wettstreitkomitee." "Ach? Ja?"
"Ich gehe davon aus, du nimmst teil?"
"O ja. Ich werde meinen bescheidenen Beitrag leisten." Nanny sah
Lätizia an. Deren Gesicht zeigte ein Lächeln, mit dem sie nicht ganz
glücklich war.
"Das Interesse in diesem Jahr ist groß", fuhr Gammer fort. "Immer
mehr Mädchen interessieren sich für den Beruf."
"Um Jungs zu bekommen, hat man den Eindruck", sagte Lätizia und
schniefte. Nanny gab keinen Kommentar ab. Soweit es
sie betraf, schien es ein verdammt guter Verwendungszweck für Hexerei
zu sein, Jungs zu bekommen. In gewisser Weise war es einer der
wesentlichen Verwendungszwecke.
"Das ist schön", sagte sie. "Großer Andrang sieht immer gut aus.
Aber."
"Pardon?" sagte Lätizia.
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