Robert Silverberg - Zeitspringer.doc

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Aus dem Amerikanischen von Tony Westermayr
Herausgegeben von Dr. Herbert W. Franke
Made in Germany • 2/82 • 1. Auflage • 119
© der Originalausgabe 1967 by Robert Silverberg
der deutschsprachigen Ausgabe 1982 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
Dieser Band erschien 1968 unter dem Titel „Flucht aus der Zukunft“ als Terra-Taschenbuch Nr. 145 im Moewig-Verlag, München
Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München
Umschlagillustration: Franco Storchi/Agt. Schluck, Garbsen
Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh

Verlagsnummer: 23394
Lektorat: Peter Wilfert • Herstellung: Peter Papenbrok
ISBN 3-442-23394-1

für Michael Moorcock


Man kann sich vorstellen, daß es im Himmel ein Telefonbuch gibt, aber es müßte gigantisch sein, weil es den vollständigen Namen und die Adresse jedes einzelnen Elektrons im Universum enthalten müßte. In der Hölle könnte es aber keines geben, denn in der Hölle werden die Insassen wie im Gefängnis oder beim Militär nicht nach dem Namen, sondern nach einer Nummer erfaßt. Sie haben keine Nummern, sie sind Nummern.

W. K. AUDEN,
»INFERNAL SCIENCE«

Daß die Zeit eine Strecke sei, der man entlang reiset, ist, genau genommen, ein ziemlich komplizierter Begriff; doch daß dies die Art sei, wie wir uns die Zeit der Gewohnheit nach vorstellen, ist jedermanns Meinung, sowohl der Gebildeten wie – was kurioser ist – der Ungebildeten… Wie sind wir zu dieser erstaunlichen Erkenntnis gelangt?

J. W. DÜNNE,
»AN EXPERIMENT WITH TIME«

1

Die überfüllte Welt sei schön, so hieß es. Die kristallinen Stadttürme, terrassiert übereinander, die rhythmischen Schwellungen einer andrängenden Menge an einem Schnellbootdock, der Tanz des Sonnenlichts auf einer Million schillernder Röcke, versammelt auf einem der großen Plätze – in solchen Dingen entfalte sich Schönheit, erklärten die Ästheten.

Quellen war kein Ästhet. Er war ein kleiner Bürokrat, ein bescheidener Beamter von angemessener Intelligenz und normalen Neigungen. Er betrachtete die Welt, wie sie sich ihm A. D. 2490 darstellte, und fand sie teuflisch. Quellen war unfähig, den verwickelten inneren Tanz zu vollführen, nach welchem grauenhafte Überfüllung als moderne Schönheit wegerklärt werden konnte. Er haßte sie. Wäre er Stufe Eins oder auch nur Stufe Zwei gewesen, hätte Quellen sich vielleicht in einer besseren Lage befunden, die neue Ästhetik zu schätzen, weil dann von ihm nicht verlangt worden wäre, mittendrin zu leben. Aber Quellen war Stufe Sieben. Die Welt sieht für jemand auf Stufe Sieben nicht genauso aus wie für jemand auf Stufe Zwei.

Trotzdem ging es Quellen, nahm man alles nur in allem, gar nicht so schlecht. Er hatte seine Bequemlichkeiten. Wider das Gesetz, freilich, erlangt durch Bestechung und Überredungskunst. Was Quellen getan hatte, war, streng genommen, schändlich, denn er hatte Besitz ergriffen von Dingen, auf die er keinen Anspruch hatte. Er hatte einen privaten Winkel der Welt eingesteckt, gerade so, als sei er Mitglied der Hohen Regierung – also von Stufe Eins oder Stufe Zwei. Da Quellen nichts von der Verantwortung der Hohen Regierung zu tragen hatte, gebührte ihm auch keines der Vorrechte.

Aber genommen hatte er sie sich. Es war verbrecherisch, ein Verrat am Ganzen. Aber irgendwo hat jeder Anspruch auf einen entscheidenden Charakterfehler. Wie jeder andere hatte Quellen mit hochfliegenden Träumen von Rechtschaffenheit angefangen. Wie fast jeder andere hatte er gelernt, sie aufzugeben.

Pöng.

Das war die Warnglocke. Irgend jemand zu Hause im elenden Gewirr von Appalachia wollte ihn sprechen. Quellen achtete nicht darauf. Er war in einer friedlichen Stimmung und hatte keine Lust, sie zu zerstören.

Pöng. Pöng. Pöng.

Es war kein drängendes Geräusch, nur ein aufdringliches, tief tönendes und sanftes, der Klang einer Bronzescheibe, getroffen von einem filzbespannten Hammer. Quellen, der nicht darauf einging, schaukelte unsicher in seinem Pneumosessel weiter und beobachtete die Krokodile, die schläfrig durch das Schlammwasser des Flusses glitten, der unterhalb seiner Veranda vorbeiströmte. Pöng. Pöng. Nach einiger Zeit verstummte die Glocke. Er blieb in wohliger Untätigkeit sitzen, spürte um sich den warmen Geruch grünen Wachstums und hörte die summenden Insektengeräusche in der Luft.

Das war das einzige an Eden, das Quellen nicht gefiel, das unaufhörliche Summen der häßlichen Insekten, die durch die stille, feucht-schwüle Luft fegten. In einer Beziehung stellten sie eine Invasion dar; sie waren für ihn Symbole des Lebens, das er bis zum Vorrücken auf Stufe Sieben geführt hatte. Damals war der Lärm das unaufhörliche Gesumme von Menschen gewesen, Menschen, die in einem riesigen Bienenkorb von Großstadt schwärmten, und Quellen verabscheute das. In Appalachia gab es natürlich keine richtigen Insekten. Nur dieses symbolische Summen.

Er stand auf, trat ans Geländer und blickte aufs Wasser hinaus. Er war ein Mann knapp vor den mittleren Lebensjahren, knapp über Mittelgröße, schlanker als früher einmal, mit widerspenstigen braunen Haaren, einer breiten, schweißbenetzten Stirn und sanften Augen von einer Färbung, die nicht ganz grün und nicht ganz blau war. Seine Lippen waren schmal und fest zusammengepreßt, was ihm einen Ausdruck der Entschlossenheit verlieh, den ein wenig kräftiges Kinn sofort Lügen strafte.

Spielerisch warf er einen Stein ins Wasser.

»Holt ihn!« rief er, als zwei Kroks lautlos auf den Wirbel im Wasser zuglitten, in der Hoffnung, einen fetten Klumpen Fleisch zu ergattern. Aber der Stein sank, schwarze Luftbläschen quollen herauf, und die Kroks stießen ihre spitzen Nasen leicht zusammen und glitten auseinander. Quellen lächelte.

Es war ein schönes Leben hier im Herzen der Dunkelheit, hier im tropischen Afrika. Samt Insekten und allem, schwarzem Schlamm und allem, feucht-schwüler Einsamkeit und allem. Sogar die Angst vor der Entdeckung war erträglich.

Quellen ging die Liste der guten Dinge durch. Marok? dachte er. Hier gab es keinen Marok. Keinen Koll, keinen Spanner, keinen Brogg, keinen Leeward. Keinen von ihnen. Aber erst recht keinen Marok. Ihn vermisse ich am wenigsten.

Was für eine Erholung war es, hier draußen bleiben zu können und nicht ihre summenden Stimmen ertragen, nicht schaudern zu müssen, wenn sie in sein Büro stürmten! Freilich war es unverantwortlich und unmoralisch von ihm, sich auf diese Weise als Übermensch einzurichten, als ein moderner Raskolnikow, für den kein Gesetz mehr galt. Quellen räumte das ein. Und doch, so sagte er sich oft, war die Lebensreise eine, die er nur einmal machen würde, und was würde am Ende bleiben, außer daß er einen Teil des Weges auf Stufe Eins zurückgelegt hatte?

Das war die einzige Freiheit, hier draußen.

Und das Beste war, fern von Marok, dem verhaßten Zimmergenossen, zu sein. Keine Sorgen mehr um seine Stapel ungespülten Geschirrs, seine Haufen von überall in dem winzigen gemeinsamen Zimmer verstreuten Büchern, seine trockene, tiefe Stimme, endlos am Videofon, wenn Quellen sich zu konzentrieren versuchte.

Nein. Hier gab es keinen Marok.

Und trotzdem, dachte Quellen traurig, trotzdem hatte sich der Friede, den er beim Bau dieses neuen Heims erwartete, aus irgendeinem Grund nicht eingestellt. Das war der Lauf der Welt: Befriedigung, die sich im Augenblick, da sie erreicht wurde, in nichts auflöste. Jahrelang hatte er mit bemerkenswerter Geduld auf den Tag gewartet, an dem er Stufe Sieben erreichen und das Recht erlangen würde, allein zu leben. Der Tag war gekommen, aber es hatte nicht genügt. So hatte er Afrika für sich gestohlen. Und nun, da er sogar das erreicht hatte, war das Leben einfach eine bedrückende Angst nach der anderen.

Ruhelos schleuderte er wieder einen Stein ins Wasser.

Pöng.

Während er verfolgte, wie die konzentrischen Kreise der Kräuselung sich auf der dunklen Wasseroberfläche ausbreiteten, wurde Quellen sich erneut der Warnglocke bewußt, die am anderen Ende des Hauses läutete. Pöng. Pöng. Pöng. Seine innere Unruhe verwandelte sich in dumpfe Vorahnung. Er schob sich aus dem Sessel und eilte zum Fongerät. Pöng.

Quellen schaltete es ein, aber nicht das Bild. Es war nicht leicht gewesen, es so einzurichten, daß alle Anrufe in seiner Wohnung daheim in Appalachia, eine halbe Welt entfernt, automatisch hierher umgeleitet wurden.

»Quellen«, sagte er, den Blick auf den grauen, leeren Bildschirm gerichtet.

»Hier Koll«, kam krächzend Antwort. »Konnte Sie bis jetzt nicht erreichen. Warum schalten Sie das Bild nicht zu, Quellen?«

»Es funktioniert nicht«, sagte Quellen. Er hoffte, der wache Koll, sein unmittelbarer Vorgesetzter im Sekretariat Verbrechen, werde die Lüge in seiner Stimme nicht bemerken.

»Kommen Sie sofort her, Quellen, ja? Spanner und ich haben etwas Dringendes mit Ihnen zu besprechen. Verstanden, Quellen? Dringend. Eine Sache der Hohen Regierung. Man setzt uns stark unter Druck.«

»Ja, Sir. Sonst noch etwas, Sir?«

»Nein. Die Einzelheiten erfahren Sie, wenn Sie hier sind. Auf der Stelle!« Koll unterbrach die Verbindung abrupt.

Quellen starrte eine Zeitlang auf den leeren Sichtschirm und kaute an seiner Lippe. Entsetzen hatte ihn erfaßt. War er das, der Ruf in die Zentrale, damit man ihm sein zuhöchst illegales, verbrecherisch selbstsüchtiges Versteck vorwarf? War endlich der Untergang gekommen? Nein. Nein. Sie konnten nicht dahintergekommen sein. Es war ausgeschlossen. Er hatte alles geregelt.

Aber sie mußten sein Geheimnis entdeckt haben, meldete sich der Gedanke sofort wieder. Weshalb sonst sollte Koll ihn so dringend zitieren, in schneidendem Ton? Quellen begann trotz der Klimaanlage, mit der die schlimmste Kongohitze ferngehalten wurde, zu schwitzen.

Man würde ihn in Stufe Acht zurückversetzen, wenn man dahinterkam. Oder, noch wahrscheinlicher, man würde ihn hinunterstoßen bis Zwölf oder Dreizehn und den Wiederaufstieg verbieten. Er würde dazu verurteilt sein, den Rest seines Lebens in einem winzigen Zimmer zu verbringen, in dem noch zwei oder drei andere Menschen wohnten, die größten, übelriechendsten, unangenehmsten Menschen, welche die tickenden Computer für ihn finden konnten.

Quellen zwang sich zur Ruhe. Vielleicht regte er sich grundlos auf. Koll hatte doch gesagt, es handle sich um eine Sache der Hohen Regierung, oder nicht? Eine Direktive von oben, keine Festnahme. Wenn sie ihm wirklich auf die Schliche kamen, würden sie ihn, das wußte Quellen, nicht einfach rufen. Sie würden ihn holen. Also ging es um etwas Dienstliches. Er sah vor seinem inneren Auge kurz die Mitglieder der Hohen Regierung, schattenhafte Halbgötter, mindestens drei Meter groß, die in ihrer unbegreiflichen Tätigkeit innehielten, um Koll durchs Rohr eine Minizettel-Mitteilung zukommen zu lassen.

Quellen warf einen langen Blick auf die grünen, überhängenden Bäume, die gebeugt waren von der Last ihres Laubes und funkelten mit den Tropfenkügelchen des Morgenregens. Er ließ die Augen bedauernd durch die zwei geräumigen Zimmer wandern, durch seine Luxusveranda, über die unverstellte Aussicht. Jedesmal, wenn er hier fortging, war es, als sei dies das letztemal. Einen Augenblick lang, nun, da alles praktisch verloren sein mochte, genoß Quellen beinahe das Summen der Fliegen. Er saugte einen letzten, alles erfassenden Blick in sich hinein und trat auf den Stat zu. Das purpurrote Feld hüllte ihn ein. Er wurde in die Maschine gesogen.

Quellen wurde verschlungen. Die verborgenen Energiegeneratoren des Stats waren in direkter Leitung mit dem Hauptgenerator verbunden, der sich am Boden des Atlantiks endlos um seine Pole drehte und die Thetakraft verdichtete, die Stat-Fortbewegung ermöglichte. Was war Thetakraft? Quellen konnte es nicht sagen. Er konnte kaum die Elektrizität erklären, die es schon viel länger gab. Er hielt sie für selbstverständlich und überließ sich dem Statfeld. Hätte jemand eine kleine Abszissenverzerrung eingeführt, Quellens Atome wären ins All gesendet und nie mehr zusammengesetzt worden. Aber niemand dachte an solche Dinge.

Die Wirkung war eine augenblickliche. Die schlanke, schlaksige Gestalt Quellens wurde zerfetzt, ein Strom von Indikator-Partikeln wurde um den halben Planeten geleitet, und Quellen wurde wieder zusammengesetzt. Es geschah so schnell – im Bruchteil einer Nanosekunde Molekül von Molekül gerissen –, daß sein Nervensystem den Schmerz totaler Auflösung nicht zu erfassen vermochte. Die Wiederherstellung zum Leben geschah ebenso schnell.

Man dachte nicht nach über die Realitäten der Statreisen. Man begab sich einfach auf die Reise. Anders zu handeln, hieß, das Elend herbeizurufen.

Quellen tauchte in der winzigen Wohnung für Bürger von Appalachia auf, die er nach jedermanns Ansicht bewohnte. Einige Mitteilungen erwarteten ihn. Er warf einen Blick darauf: in der Hauptsache Werbeeinblendungen. Ein Vermerk machte ihn aber darauf aufmerksam, daß seine Schwester Helaine zu Besuch gekommen war. Quellen spürte einen Stich von Schuldbewußtsein. Helaine und ihr Mann waren Prole - Proleten, von den grimmigen Realitäten niedergewalzt. Er hatte sich oft gewünscht, etwas für sie tun zu können, da ihr Elend seinem eigenen Gewissen scharfe Krallen verlieh. Aber was konnte er tun? Er zog es vor, sich nicht einzumischen.

Mit einer Reihe rascher Bewegungen schlüpfte er aus seiner Freizeitkleidung und in seine gestärkte Arbeitsuniform, dann entfernte er die Anzeige ›Nicht stören‹ von der Tür. So wandelte er sich aus Joe Quellen, Besitzer eines illegalen Privatnestes mitten in einem nicht gemeldeten Reservat in Afrika, um in Joseph Quellen, KrimSek, entschlossener Verteidiger von Recht und Ordnung. Er verließ das Haus. Der Lift kippte ihn endlose Etagen zum Schnellboot-Landeplatz im zehnten Stockwerk. Statübertragung innerhalb einer Stadt war technisch nicht möglich; um so bedauerlicher, dachte Quellen.

Ein Schnellboot glitt auf seine Rampe. Quellen schloß sich dem Gedränge an. Er spürte das Energiedröhnen, als das Boot hinausglitt. In dumpfem Angstschmerz begab Quellen sich in die Innenstadt zu Koll.

Das Gebäude des Sekretariats Verbrechen, kurz KrimSek genannt, galt als architektonisches Meisterwerk, wie man Quellen erzählt hatte. Achtzig Stockwerke, darüber Stacheltürme; die blutroten Vorhangwände waren in ihrer Beschaffenheit grob und sandig, so daß sie, wenn beleuchtet, wie Rundfeuer leuchteten. Das Gebäude hatte Wurzeln; Quellen hatte nie in Erfahrung gebracht, wie viele Untergeschosse es gab, und er vermutete, daß niemand es wirklich wußte, mit Ausnahme von bestimmten Mitgliedern der Hohen Regierung. Ganz gewiß gab es da unten zwanzig Etagen Computer und darunter eine Gruft für Totenlagerung und noch tiefer weitere acht Etagen Verhörräume. Soviel wußte Quellen genau. Manche behaupteten, es gäbe noch einen Computer, vierzig Etagen dick, unter den Verhörräumen, und andere sagten, das sei der wahre Computer, während der darüber nur zur Dekoration und Tarnung diene.

Vielleicht. Quellen versuchte nicht, in solche Dinge zu tief einzudringen. Die Hohe Regierung mochte, was ihn anging, in eben diesem Gebäude hundert Stockwerke unter der Straße zu geheimen Sitzungen zusammentreten. Er hielt seine Neugier im Zaum. Er wollte die Neugier anderer nicht auf sich lenken, und dazu mußte er seine eigene einschränken.

Büroangestellte nickten Quellen respektvoll zu, als er zwischen ihren dichtgedrängten Reihen dahinging. Er lächelte. Er konnte es sich leisten, freundlich zu sein; hier besaß er Rang, das Mana von Stufe Sieben. Sie waren Vierzehner, Fünfzehner, der Junge, der den Abfallkorb leerte, vermutlich ein Zwanziger. Für sie war er eine erhabene Gestalt, praktisch ein Vertrauter von Personen der Hohen Regierung, ein persönlicher Mitarbeiter von Danton und Kloofman gar. Alles eine Frage des Blickwinkels, dachte Quellen. In Wahrheit hatte er Danton – oder jemanden, der angeblich Danton war – nur einmal kurz erspäht. Er hatte eigentlich keinen Anlaß zu der Vermutung, daß es Kloofman wirklich gab, obwohl dem so sein mochte.

Quellen umklammerte mit der Hand fest den Türknopf und wartete die Abtastung ab. Die Tür des inneren Büros ging auf. Er trat ein und fand unwirsche Personen über Schreibtische gekauert. Der kleine, scharfblickende Martin Koll, aussehend wie ein großes Nagetier, saß der Tür gegenüber und blätterte in einem Stapel Minizettel. Lein Spanner, Quellens zweiter Chef, saß ihm am schimmernden Tisch gegenüber, den mächtigen Stiernacken über andere Mitteilungen gebeugt. Als Quellen ins Zimmer kam, griff Koll mit einer raschen, nervösen Bewegung zur Wand und klappte den Belüftungsschacht auf, so daß die Zufuhr für drei Personen reichte.

»Hat lange genug gedauert«, sagte Koll, ohne aufzusehen.

Quellen funkelte ihn böse an. Koll war grauhaarig, grauen Gesichts, von grauer Seele. Quellen haßte ihn.

»Verzeihung«, sagte er. »Ich mußte mich umkleiden. Ich war außer Dienst.«

»Was wir auch tun, es wird nichts ändern«, knurrte Spanner, so, als sei niemand hereingekommen und nichts gesprochen worden. »Was passiert ist, ist passiert, und nichts, was wir tun, wird auch nur die geringste Wirkung haben. Verstehen Sie? Am liebsten würde ich alles kurz und klein schlagen! Zerhacken und zerquetschen!«

»Setzen Sie sich, Quellen«, sagte Koll beiläufig. Er wandte sich Spanner zu, einem breitgebauten, korpulenten Mann mit gefurchter Stirn und plumpen Zügen. »Ich dachte, das hätten wir alles schon besprochen«, sagte Koll. »Wenn wir eingreifen, gerät alles durcheinander. Bei ungefähr fünfhundert Jahren, die betroffen sind, verpfuschen wir alles. Soviel steht fest.«

Quellen atmete innerlich auf. Was es auch sein mochte, das sie beschäftigte, sein illegales afrikanisches Versteck war es nicht. So, wie es sich anhörte, sprachen sie von den Zeitspringern. Gut. Er betrachtete seine beiden Vorgesetzten genauer, seit sein Blick nicht mehr von Angst und der Erwartung demütigender Bestrafung getrübt war. Sie stritten offenbar schon geraume Zeit, Koll und Spanner. Koll war der Unergründliche, mit seinem beweglichen Verstand und der nervösen, zuckenden Energie. Aber Spanner besaß mehr Macht. Es hieß, er besitze Verbindungen Höheren, sogar Hohen Orts.

»Also gut, Koll«, brummte Spanner. »Ich will sogar zugeben, daß das die Vergangenheit durcheinanderbringt. Soviel räume ich ein.«

»Immerhin etwas«, sagte der kleine Mann.

»Unterbrechen Sie mich nicht. Ich glaube nach wie vor, daß wir dem Einhalt gebieten müssen. Wir können nicht ungeschehen machen, was geschehen ist, aber wir können es dieses Jahr kappen. Das müssen wir sogar tun.«

Koll funkelte Spanner grimmig an. Quellen konnte erkennen, daß seine Anwesenheit der einzige Grund dafür war, daß Koll den Zorn unterdrückte, der hinter seinen Augen lag. Sie hätten einander beschimpft, wäre nicht der Untergebene Quellen dabeigewesen.

»Warum, Spanner, warum?« fragte Koll halbwegs beherrscht.

»Wenn wir das weiterlaufen lassen, erhalten sie die Dinge in dem Zustand, in dem sie sind. 86 sind viertausend gegangen, 87 neuntausend, 88 fünfzigtausend. Und wenn wir die Zahlen vom vorigen Jahr bekommen, werden es noch höhere sein. Hören Sie – hier steht, daß in den ersten achtzig Jahren mehr als eine Million Springer gekommen ist, und danach stiegen die Zahlen ständig an. Denken Sie an die Bevölkerung, die wir verlieren. Es ist wunderbar. Wir können es uns nicht leisten, diese Leute hier zu belassen, wenn wir eine Gelegenheit haben, sie loszuwerden. Und wenn die Geschichte sagt, daß wir sie losgeworden sind.«

»Die Geschichte sagt auch, daß sie nach 2491 aufgehört haben, zurückzugehen. Das heißt, daß wir sie im nächsten Jahr erwischt haben«, erklärte Spanner. »Ich meine, daß wir sie nächstes Jahr erwischen werden. Das ist so bestimmt. Wir haben keine andere Wahl, als zu gehorchen. Die Vergangenheit ist ein verschlossenes Buch.«

»So?« Koll lachte; es klang beinahe wie ein Bellen. »Und wenn wir keine Lösung finden? Wenn die Springer immer weiter zurückkehren?«

»So ist es aber nicht gekommen. Das wissen wir. Alle Springer, die in die Vergangenheit gelangt sind, kamen aus den Jahren 2486 bis 2491. Das ist festgehalten«, betonte Spanner.

»Man kann Aufzeichnungen fälschen.«

»Die Hohe Regierung wünscht, daß diesem Verkehr Einhalt geboten wird. Warum muß ich mich mit Ihnen streiten, Koll? Wenn Sie der Geschichte trotzen wollen, ist das Ihre Sache. Aber auch Denen? Nein. Diese Wahl haben wir nicht.«

»Aber Millionen von Prolen wegzuschaffen –«

Spanner gab einen Knurrlaut von sich und umklammerte die Minizettel fester. Quellen, der sich vorkam wie ein Eindringling, ließ die Augen zwischen den beiden Männern hin- und herzucken.

»Also gut«, sagte Spanner langsam. »Ich gebe Ihnen recht. Es ist erfreulich, alle diese Proleten zu verlieren. Obwohl es an der Oberfläche so aussieht, daß wir sie nicht mehr viel länger verlieren werden. Sie sagen, wir müssen das weitergehen lassen, sonst verändert das die Vergangenheit. Ich bin entgegengesetzter Ansicht. Aber lassen wir das auf sich beruhen. Ich will nicht darüber streiten, weil Sie Ihrer Sache so sicher zu sein scheinen. Ferner halten Sie es für eine gute Sache, diese Zeitspringer-Geschichte als eine Methode zur Verringerung der Bevölkerungszahlen zu nutzen. Da stimme ich Ihnen ebenfalls zu, Koll. Ich mag die Überfüllung so wenig wie Sie, und ich räume ein, daß die heutigen Zustände ein absurdes Ausmaß erreicht haben. Aber bedenken Sie: Wir werden getäuscht. Daß jemand hinter unserem Rücken ein Zeitreisen-Unternehmen betreibt, ist illegal und unmoralisch und vieles mehr, und man sollte ihm das Handwerk legen. Was meinen Sie, Quellen? Letzten Endes wird das unter die Verantwortung Ihrer Abteilung fallen, wissen Sie.«

Der plötzliche Bezug auf ihn erschreckte Quellen. Er bemühte sich immer noch, bei dieser Debatte die Orientierung zu finden, und war nicht ganz sicher, wovon sie sprachen. Er lächelte schwach und schüttelte den Kopf.

»Keine Meinung?« fragte Koll ätzend.

Quellen sah ihn an. Er war unfähig, direkt in Kolls harte, farblose Augen zu starren und richtete den Blick statt dessen auf die Backenknochen des Büroleiters. Er blieb stumm.

»Keine Meinung, Quellen? Das ist allerdings sehr bedauerlich. Es spricht nicht für Sie.«

Quellen unterdrückte ein Schaudern.

»Ich fürchte, ich habe mich nicht auf dem laufenden gehalten, was die neueste Entwicklung im Fall der Zeitspringer angeht. Wie Sie wissen, war ich sehr beschäftigt mit gewissen Projekten, die –« Er ließ seine Stimme verklingen und kam sich vor wie ein Narr. Meine übereifrigen Mitarbeiter wußten gewiß genau Bescheid, dachte er. Er fragte sich, warum er sich nie die Mühe gemacht hatte, bei Brogg zurückzufragen. Aber wie sollte er alles vorausahnen?

»Ist Ihnen klar, daß seit Anfang des Jahres Tausende von Proleten ins Nichts verschwunden sind, Quellen?« fragte Koll.

»Nein, Sir. Äh, ich meine, natürlich, Sir. Gewiß. Es ist nur so, daß wir im Grunde keine Gelegenheit gehabt haben, etwas zu unternehmen«, sagte Quellen.

Der alberne Klang seiner Stimme entsetzte ihn. Sehr lahm, Quellen, sehr lahm, sagte er zu sich selbst. Natürlich weißt du nichts darüber, wenn du deine ganze freie Zeit in dem hübschen kleinen Versteck jenseits des Ozeans verbringst. Aber Stanley Brogg kennt vermutlich alle Einzelheiten. Brogg ist sehr tüchtig.

»Nun, wohin, glauben Sie denn, sind sie gegangen?« fragte Koll. »Vielleicht glauben Sie, sie wären alle in Stats gesprungen und irgendwohin gegangen, um Arbeit zu suchen. Vielleicht nach Afrika?«

Der Stachel war giftig. Quellen war nahe daran, vor Entsetzen aufzustöhnen, bevor er sich einzureden vermochte, daß Koll ins Blaue zielte. Er verbarg seine Reaktion, so gut er konnte, und erwiderte gleichmütig: »Ich habe keine Ahnung, Sir.«

»Dann haben Sie Ihre Geschichtsbücher nicht richtig gelesen, Quellen. Denken Sie nach, Mann. Was war die wichtigste historische Entwicklung der vergangenen fünfhundert Jahre?«

Quellen überlegte. Was nun? Die Entente? Das Entstehen der Hohen Regierung? Der Zusammenbruch der Nationen? Das Stat? Er haßte die Art und Weise, wie Koll ihn zu einem dummen Schuljungen machen konnte. Quellen wußte, daß er kein Schwachkopf war, selbst wenn er noch so albern wirkte, sobald man ihn tadelte. Er war durchaus tüchtig. Aber im Kern seines Wesens lag seine verwundbare Stelle, sein verborgenes Verbrechen, und das bedeutete, daß er im Innersten Wackelpudding war. Er begann zu schwitzen. Er sagte: »Ich bin nicht sicher, wie ich diese Frage bewerten soll, Sir.«

Koll klappte die Sauerstoffzufuhr ein bißchen stärker auf, mit einer beinahe beleidigende Geste der Freundlichkeit. Das kostbare Gas strömte ins Zimmer. Leise sagte Koll: »Dann will ich es Ihnen sagen. Es ist die Ankunft der Springer. Und dies ist das Zeitalter, von dem aus sie den Weg antreten.«

»Versteht sich«, sagte Quellen. Jedermann wußte von den Springern, und er ärgerte sich über sich selbst, weil er Koll nicht einfach das Naheliegende offeriert hatte.

»In den letzten Jahren hat jemand eine Methode entwickelt, durch die Zeit zu reisen«, sagte Spanner. »Er fängt an, die Zeitspringer in die Vergangenheit zurückzuschleusen. Tausende von arbeitslosen Proleten sind schon verschwunden, und wenn wir ihn nicht bald fassen, wird er die Vergangenheit mit allen Wanderarbeitern im Land vollstopfen.«

»Und? Das meine ich doch«, sagte Koll ungeduldig. »Wir wissen, daß sie schon in der Vergangenheit angekommen sind; unsere Geschichtsbücher sagen es. Jetzt können wir uns zurücklehnen und es diesem Burschen überlassen, unseren Abfall über die vergangenen fünf Jahrhunderte zu verstreuen.«

Spanner drehte sich mit dem Sessel herum und starrte Quellen an.

»Was meinen Sie?« fragte er scharf. »Sollen wir uns an den Befehl der Hohen Regierung halten, diesen Kerl ausfindig zu machen und das Verschwinden der Springer zu beenden? Oder sollten wir tun, was Koll meint, und alles einfach so weitergehen lassen, womit nicht nur Denen, sondern übrigens auch dem getrotzt wird, was die Geschichte sagt?«

»Ich brauche Zeit, um den Fall zu studieren«, sagte Quellen argwöhnisch. Das letzte, was er wollte, war, dazu gezwungen zu werden, einen Vorgesetzten dem anderen vorzuziehen.

»Lassen Sie sich Ihren Weg von mir zeigen«, sagte Spanner mit einem Seitenblick auf Koll. »Wir haben unsere Anweisungen von der Hohen Regierung, und es ist sinnlos, daran zu deuteln. Wie Koll sehr genau weiß, hat Kloofman persönlich Interesse an diesem Fall genommen. Unsere Aufgabe ist es, den illegalen Hauptknoten der Zeitreisetätigkeit ausfindig zu machen und ihn unter amtliche Kontrolle zu bringen. Koll, wenn Sie Einwände haben, wenden Sie sich besser an die Hohe Regierung.«

»Keine Einwände«, sagte Koll. »Quellen?«

»Ja, Sir?«

»Sie haben Mr. Spanner gehört. Machen Sie sich sofort an die Arbeit. Spüren Sie den Kerl auf, der die Springer befördert, und räumen Sie ihn aus dem Weg, aber nicht, bevor Sie sein Geheimnis aus ihm herausgeholt haben. Die Hohe Regierung will den Prozeß in die Hand bekommen. Und dieses illegale Vorgehen unterbinden. Zeigen Sie, was Sie können, Quellen.« Er war entlassen.

2

Norman Pomrath sah seine Frau kalt an und sagte: »Wann wird dein Bruder für uns etwas tun, Helaine?«

»Ich hab’ es dir doch schon gesagt. Er kann nichts tun.«

»Er will nicht, meinst du?«

»Er kann nicht. Für wen hältst du ihn? Für Danton? Und würdest du mir, bitte, aus dem Weg gehen? Ich muß duschen.«

»Wenigstens hast du bitte gesagt«, murrte Pomrath. »Ich bin ja schon für Kleinigkeiten dankbar.«

Er trat zur Seite. Aus einem Überrest von Züchtigkeit heraus schaute er nicht zu, als seine Frau ihre grüne Tunika auszog. Sie knüllte das Kleidungsstück zusammen, warf es auf die Seite und trat unter das Molekularbad. Da sie ihm den Rücken zudrehte, während sie sich wusch, erlaubte er sich, sie zu beobachten. Züchtigkeit ist wichtig, dachte Pomrath. Selbst wenn man schon elf Jahre verheiratet ist, muß man der anderen Person in diesem stinkenden Ein-Zimmer-Leben etwas Privatraum gewähren. Sonst klickern deine Gyros. Er kaute an einem Fingernagel und warf verstohlene Blicke auf die mageren Gesäßbacken seiner Frau.

Die Luft in der Wohnung der Pomraths war schlecht, aber er wagte den Sauerstoff nicht weiter aufzudrehen. Er hatte die Ration für diese Woche verbraucht, und wenn er den Schieber betätigte, würde der Versorgungscomputer irgendwo unter der Erde Unerfreuliches mitzuteilen haben. Pomrath war nicht der Meinung, daß seine Nerven jetzt viel Geseires von einem Versorgungscomputer würden ertragen können. Seine Nerven hielten überhaupt nicht viel aus. Er war Stufe Vierzehn, an sich schon schlimm genug, hatte seit drei Monaten keine Arbeit mehr gefunden, was noch schlimmer war, und besaß einen Schwager in Stufe Sieben, was ihn zutiefst traf. Aber was nützte ihm Joe Quellen? Der verdammte Kerl war nie da. Entzog sich einfach seiner familiären Verantwortung.

Helaine beendete ihr Duschen. Das Molekularbad verwendete kein Wasser; nur Stufe Zehn und darüber durften Wasser zum Zweck der Körperreinigung benutzen. Da die meisten Menschen auf der Welt Stufe Elf und tiefer waren, hätte der Planet ohne die praktischen Molekularbäder zum Himmel gestunken. Man zog sich aus, stellte sich vor die Düse, und Ultraschallwellen lösten raffiniert den Schmutz von der Haut und verliehen einem die Illusion, man sei sauber. Pomrath bemühte sich nicht, den Blick abzuwenden, als Helaines nackte weiße Gestalt an ihm vorbeiging. Sie schlüpfte in ihre Tunika. Er erinnerte sich, daß er sie einmal für üppig gehalten hatte. Da war er noch viel jünger gewesen. Später hatte er den Eindruck gehabt, daß sie Gewicht verlor. Jetzt war sie dünn. Es gab Zeiten – zumal nachts –, da kam sie ihm kaum noch weiblich vor.

Er ließ sich in die Flechtschaum-Wiege an einer fensterlosen Wand sinken und sagte: »Wann kommen die Kinder heim?«

»In fünfzehn Minuten. Deshalb habe ich jetzt geduscht. Bleibst du hier, Norm?«

»Ich gehe in fünf Minuten.«

»Zum Schnüffellokal?«

Er starrte sie finster an. Sein Gesicht, vom Mißerfolg zerfurcht und gezeichnet, eignete sich gut zum Finsterblicken.

»Nein«, sagte er, »nicht da hin. Zur Stellungsmaschine.«

»Aber du weißt, die Stellungsmaschine setzt sich hier mit dir in Verbindung, wenn es Arbeit gibt, also –«

»Ich will aber hingehen«, sagte Pomrath mit eisiger Würde.

»Ich will nicht, daß sie zu mir kommt. Ich gehe zu ihr. Und dann höchstwahrscheinlich zum Schnüffellokal. Vielleicht, um zu feiern, vielleicht, um meinen Kummer zu betäuben.«

»Ich wußte es.«

»Verdammt, Helaine, warum läßt du mich nicht in Ruhe? Ist es m...

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