Zindell, David - Das Valashu-Epos 01 - Der Magische Stein.pdf

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Buch
Vor langer Zeit wurde die Welt Ea vom Sternenvolk besucht, das den Menschen nicht nur Glück und Frieden
schenkte, sondern auch magische Artefakte - so genannte Gelstei - zurückließ. So erzählen es zumindest
unzählige Lieder und Legenden. Inzwischen ist jedoch das dunkle Zeitalter des Drachen angebrochen und Ea ein
Schauplatz blutiger Kriege und nie endender Gewalt. Als Morjin, der Lord der Lügen, der schon einmal die Welt
bedrohte, sich wieder erhebt und von seiner finsteren Feste Argattha aus seine Heere in alle Lande schickt,
scheint der Untergang endgültig nahe. Aber noch gibt es Hoffnung, denn um ganz Ea unter sein Joch zu
zwingen, benötigt Morjin das mächtigste magische Artefakt des Sternenvolks - den Lichtstein, den er schon
einmal besessen hat und der seit langer Zeit verschollen ist. Einer Prophezeiung zufolge wird eine Gemeinschaft
von sieben Brüdern und Schwestern sich in die Dunkelheit aufmachen, um ihn zu finden, so dass mit seiner Hilfe
Ea erneut in ein Zeitalter des Friedens und des Glücks geführt werden kann. Und so begibt sich Valashu Elahad,
der siebte Sohn des Königs von Mesh, zusammen mit einer Schar tapferer Mitstreiter auf eine große Queste...
Autor
Der 1952 geborene David Zindell gilt spätestens seit seinem ersten Roman, dem großartigen SF-Epos
»Neverness«, als eine der bedeutendsten Stimmen der neueren Phantastik. Für seine Kurzgeschichten erhielt er
bereits eine Nominierung für den renommierten Hugo Award. David Zindell lebt in Boulder, Colorado.
Weitere Bände sind in Vorbereitung.
David Zindell
Der magische Stein
Das Valashu-Epos 1
Aus dem Englischen von Susanne Gerold
BLANVALET
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Lightstone« bei Voyager, HarperCollinsPxWK^m, London.
Umwelthinweis:
bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.
Blanvalet Taschenbücher erscheinen im
Goldmann Verlag, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House.
Deutsche Erstveröffentlichung September 2003
Copyright © der Originalausgabe 2001 by David Zindell
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schluck GmbH, 30827 Garbsen.
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagillustration: Agt. Schlück/Andre
Satz: Uhl+Massopust, Aalen
Druck: GGP Media, Pößneck
Titelnummer: 24980
Redaktion: Marie-Luise Bezzenberger
UH • Herstellung: Peter Papenbrok
Made in Germany
ISBN 3-442-24980-5
Vorbemerkungen
Ich möchte jenen Menschen danken, die diesem Buch besonders nahe stehen und es ermöglicht haben: meinen
Töchtern, die sich mit mir auf viele lange, magische Spaziergänge durch Ea begeben und mir mit scharfsinnigen
Fragen und leuchtender, glühender Vorstellungskraft, mit ihren Träumen und ihrer Freude geholfen haben, diese
Geschichte hervorzubringen. Meinem Agenten Donald Maass danke ich für seinen Enthusiasmus, seine
brillanten Vorschläge und seine Hilfe bei der Feinabstimmung des Romans. Und ich danke meinen
einfallsreichen Lektorinnen Jane Johnson und Joy Chamberlain, deren uneingeschränkte Unterstützung und harte
Arbeit angesichts des großen Drucks dieses Buch möglich gemacht haben.
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In klaren Winternächten habe ich manchmal Berge bestiegen, nur um den Sternen näher zu sein. Manche Leute
behaupten, es handele sich bei den schimmernden Lichtern um die Seelen von Kriegern, die in einer Schlacht
gefallen sind; andere sagen, dass Arwe zu Anbeginn der Zeit unendlich viele Diamanten in den Himmel warf,
damit sie dort für immer scheinen und die Dunkelheit der Nacht vertreiben. Ich jedoch glaube, dass die Sterne
andere Sonnen sind, so wie unsere eigene. Sie sind miteinander verwandt und führen glühende, leise gewisperte
Unterhaltungen über uralte Träume und unerfüllt gebliebene Versprechungen. Vor langer Zeit kam von dort
unser Volk auf diese Welt und brachte den Becher mit, der als Lichtstein bezeichnet wird, und eines Tages
werden wir, Licht in den Händen tragend, als Engel dorthin zurückkehren.
Auch mein Großvater glaubte das. Er war es, der mir die Geschichten des Großen Bären, des Drachen, der
Sieben Schwestern und all der anderen Sternbilder erzählt hat. Er war es auch, der mir den Namen Valashu
gegeben hat - nach dem leuchtenden Morgenstern. Stets betonte er, dass wir dazu geboren seien, zu leuchten. Ein
Valari-Krieger, erklärte er mir einmal, sollte zunächst seine Seele polieren und erst dann sein Schwert. Denn nur
so kann er sein Schicksal erkennen und es annehmen - oder sich dagegen auflehnen, sofern er zu den wenigen
Auserwählten gehört, die dazu bestimmt sind, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ein solcher Mann ist
ein Geschenk für die Erde und bringt ihr Ruhm. Ein solcher Mann war mein Großvater. Trotzdem haben die
Ishkaner ihn getötet.
Elkasar Elahad hätte es als höchst seltsam empfunden, dass an dem gleichen Tag, da Boten von König Kiritan
aus Alonia gekommen waren, um die bevorstehende Queste nach dem Lichtstein zu verkünden, auch eine
vollständige Kompanie von Rittern und Edlen aus Ishka die Burg meines Vaters betrat, um entweder über den
Frieden zu verhandeln
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oder zum Krieg aufzurufen. Es war der erste Ashte im 2812ten Jahr jener Zeitspanne, die von den
Geschichtsschreibern als das Zeitalter des Drachen bezeichnet wird. An diesem warmen Tag eines
außergewöhnlich schönen Frühlings, da der Schnee auf den Bergen schmolz und die Wildblumen in voller Blüte
standen, wimmelten die Wälder in der Umgebung von Silvassu nur so von Keilern, Hirschen und anderen
Tieren, die man jagen und verzehren konnte. Als der Verwalter meines Vaters an diesem Tag die Gäste der Burg
zählte, schimpfte er leise über die vielen Vorräte, die für die Küche benötigt werden würden, falls ein Gastmahl
abgehalten werden sollte. Aus diesem Grund zogen meine Brüder und ich gemeinsam mit anderen Rittern auf die
Jagd, um Fleisch zu beschaffen. Auch Königsmörder mussten schließlich essen.
Kurz nach der Mittagszeit ritt ich mit meinem ältesten Bruder Lord Asaru die Hügel hinab, auf denen unsere
Stadt vor langer Zeit errichtet worden war. Mein Freund Maram sowie ein Junker meines Bruders begleiteten
uns. Wir waren eine kleine Gruppe, vielleicht die kleinste von vielen, die sich an diesem Tag in die Wälder
schlugen. Ich war froh darüber, denn ich machte mir nichts aus bellenden Jagdhunden und Männern, die auf
schnaubenden Pferden vor Angst wahnsinnige Wildschweine zur Strecke brachten. Was Asaru betraf, so war er
wie unser Vater, König Shamesh: streng, ernst und zielstrebig, wobei er mit erstaunlicher Klarheit erkennen
konnte, was zweckdienlich war. Seine Seele glänzte nicht nur, sie war auch so geschärft, dass sie den besten
Stahl von Godhra zerschneiden konnte. Er hatte vor, einen Hirsch zu erlegen, weshalb wir nicht allzu viele sein
durften und uns verborgen halten mussten. Maram, der eine prunkvolle Jagd mit anderen Rittern vorgezogen
hätte, folgte ihm dennoch. Das heißt, in Wirklichkeit folgte er mir. Bereitwillig hatte er erklärt, dass er seinen
besten Freund niemals im Stich lassen würde. Was er nicht gesagt hatte, war, dass er ein Feigling war und
einmal mit angesehen hatte, was die rasiermesserscharfen Hauer eines Keilers den Lenden eines Mannes antun
konnten. Es war weit ungefährlicher, einen Hirsch zu jagen.
Es war ein warmer Tag, und die Luft roch nach frisch umgepflügter Erde und Fliederblüten. Jede Viertelmeile
etwa erhob sich ein Bauernhaus zwischen den mit niedrigen Steinmauern eingezäunten Feldern. Neue Gerste
stand im Boden, und am Himmel hing die goldene Sonne. Während wir weiter ins Schwanental hineinritten,
machte das Acker-
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land einem sich über viele Meilen erstreckenden Wald Platz. Am Rand eines Feldes, vor dem sich uralte Eichen
wie eine grüne Mauer erhoben, hielten wir an und saßen ab. Asaru reichte die Zügel seines Pferdes seinem
Junker Joshu Kadar, der das kantige Gesicht und das unerschütterliche Wesen seines Vaters, Lord Kadars, besaß.
Joshu gefiel es nicht, als Hüter der Pferde zurückbleiben zu müssen, und so beobachtete er ungeduldig, wie
Asaru seinen großen Bogen nahm und spannte. Einen Augenblick lang war ich versucht, ihm meinen Bogen zu
geben und ihn an der Hirschjagd teilnehmen zu lassen, während ich in der Sonne wartete. Ich hasste das Jagen
beinahe ebenso sehr wie den Krieg.
Und dann reichte mir Asaru, der in seinem schwarzen, wehenden Umhang groß und gebieterisch wirkte, meinen
Bogen und deutete auf den Wald. »Wieso gerade dieser Wald, Val?«, fragte er.
»Wieso nicht?«, entgegnete ich. Asaru wusste, was ich vom Abschlachten unschuldiger Tiere hielt, und so hatte
er mir an diesem Tag die Entscheidung überlassen, wo wir jagen würden. Obwohl er während des ganzen Ritts
von der Burg hierher geschwiegen hatte, musste er geahnt haben, wohin ich ihn führen würde. »Du weißt genau,
wieso«, antwortete ich etwas sanfter und sah ihn an.
Er schaute mich mit jener Furchtlosigkeit an, nach der jeder Valari sein ganzes Leben lang strebte. Seine Augen
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waren die Augen der valarischen Könige: tief und geheimnisvoll, schwarz wie das All und leuchtend wie die
Sterne. Er besaß das kühn geschnittene Antlitz und die lange Hakennase unserer Ahnen, dazu eine Haut, die von
der heißen Frühlingssonne braun gebrannt war und wie verwittertes Elfenbein aussah. Seine langen, dichten
Haare, tiefschwarz und glänzend, flatterten im Wind. Obwohl er ganz ein Mann des Blutes und des Stahls und
anderer Elemente der Erde war, umgab ihn doch auch etwas Außerweltliches. Mein Vater behauptete, wir sähen
uns ähnlich genug, um Zwillinge zu sein. Doch von den sieben Söhnen Shavashar Elahads war er der
Erstgeborene und ich der Letzte. Und das war ein bedeutender Unterschied.
Er trat näher an mich heran und betrachtete mich schweigend. Während ich darauf bestanden hatte, eine lederne
Jagdjacke, ein Hemd aus grober Wolle und Hosen von dunklem Waldgrün anzulegen, war er in einen prächtigen
Umhang und eine schwarze Tunika gekleidet, die mit dem silbernen Schwan und den sieben silbernen Sternen
des Königs-
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hauses von Mesh verziert war. Er hätte sich niemals in anderer Kleidung sehen lassen. Er war der größte meiner
Brüder, noch mindestens einen Zoll größer als ich. Jetzt schien er auf mich herabzuschauen, und der Blick seiner
leuchtenden, schwarzen Augen fühlte sich wie eine gleißende Sonne auf der Narbe an, die sich oberhalb meines
linken Auges über meine Stirn zog. Es war eine einzigartige Narbe; sie besaß die Form eines Blitzstrahls.
Vermutlich rührte sie an Dinge, an die er lieber nicht erinnert werden wollte.
»Warum musst du immer so wild sein?«, fragte er mit einem rasch hervorgestoßenen Atemzug.
Ich hielt seinem Blick stand und lauschte dem Donnern meines Herzens, antwortete jedoch nicht.
»Was ist los?«, dröhnte plötzlich eine laute Stimme. »Wovon redet ihr?«
Maram, der den stummen Austausch zwischen uns bemerkt hatte, war mit seinem Bogen näher getreten; er
wirkte ein wenig nervös und gab grollende, kehlige Laute von sich. Er war zwar nicht ganz so hoch gewachsen
wie Asaru, aber dennoch ein mächtiger Mann mit einem dicken Bauch, den er vor sich herschob, als wollte er
jedes Hindernis und sämtliche geringeren Männer beiseite schieben.
»Sollte ich etwas über diesen Wald wissen?«, fragte er mich.
»Er ist voller Hirsche«, antwortete ich lächelnd.
»Und anderer Tiere«, fügte Asaru herausfordernd hinzu.
»Was für andere Tiere?«, wollte Maram wissen. Er leckte über seine vollen, sinnlichen Lippen und rieb sich den
dichten braunen Bart an der Stelle, wo er sich über den feisten Wangen lockte.
»Als wir das letzte Mal in diesem Wald waren, konnten wir uns kaum von der Stelle bewegen, ohne auf einen
Hasen zu treten«, erklärte Asaru. »Und überall waren Eichhörnchen.«
»Schön, schön«, meinte Maram. »Ich liebe Eichhörnchen.«
»Außerdem gab es Füchse«, sagte Asaru. »Und Wölfe.«
Maram räusperte sich mit einem leisen Hüsteln, dann schluckte er mehrmals. »In meinem Land habe ich bisher
nur Rotfüchse gesehen - die sind ganz anders als die riesigen grauen Füchse hier bei euch, die ebenso gut auch
Wölfe sein könnten. Und was unsere Wölfe betrifft - nun, die meisten haben wir schon vor langer Zeit
vertrieben.«
Maram stammte nicht aus Mesh, nicht einmal aus den Neun König-
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reichen der Valari. Eigentlich war seine ganze Erscheinung dazu geeignet, das Empfinden der Valari zu
beleidigen. Seine großen braunen Augen erinnerten an den gesüßten Kaffee, den die Delianer tranken, und wann
immer es die Situation erforderte, füllten sie sich vor Wut oder Rührung mit Tränen. An jedem Finger seiner
fleischigen Hände trug er einen edelsteinbesetzten Ring, und er war in die leuchtende, scharlachrote Tunika und
die Hosen des delianischen Königshauses gekleidet. Ganz offensichtlich mochte er die Farbe Rot, denn sie war
das äußere Sinnbild der Färbung seines stürmischen Herzens. Noch mehr liebte er es, aufzufallen und gesehen zu
werden, besonders in einem Wald voll hungriger Männer mit Pfeilen und Bögen. Meine Brüder glaubten, er sei
zur Strafe für sein feiges Verhalten in die Schule der Bruderschaft geschickt worden, die in den Bergen oberhalb
von Silvassu lag. Doch in Wirklichkeit war er wegen einer unüberlegten Taktlosigkeit gegenüber der
Lieblingskonkubine seines Vaters vom Hof verbannt worden.
»Jag bloß keine Wölfe in Mesh«, warnte Asaru. »So etwas bringt Unglück.«
»Nun ja«, meinte Maram, wobei er an der Sehne seines Bogens zupfte. »Ich werde sie nicht jagen, solange sie
mich nicht jagen.«
»Wölfe jagen keine Menschen«, versicherte ihm Asaru. »Es sind die Bären, vor denen du dich in Acht nehmen
solltest.«
»Bären?«
»Um diese Jahreszeit vor allem die Weibchen mit ihren Jungen.«
»Ich habe letztes Jahr einen von euren Bären gesehen«, meinte Maram. »Ich hoffe, ich begegne nie wieder
einem.«
Ich rieb mir über die Stirn, als ich die Hitze von Marams Angst spürte. Natürlich war Mesh bekannt für seine
riesigen wilden Braunbären, die schon vor langer Zeit die viel sanfteren Schwarzbären in freundlichere Länder
wie Delu vertrieben hatten.
»Wenn die Brüder dich nicht davonjagen und du lange genug bei uns bleibst, wirst du noch viele Bären zu
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Gesicht bekommen«, meinte Asaru.
»Aber ich dachte, die Bären halten sich meist in den Bergen auf?«
»Na, und was glaubst du, wo du hier bist?«, fragte Asaru und deutete mit einer Hand auf die schneebedeckten
Gipfel um uns herum.
Tatsächlich standen wir im Schwanental, dem größten und lieblichs-
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ten Tal von Mesh. Hier floss die Kurash durch sanftes Gelände zum Waskausee. Darüber hinaus gab es hier noch
andere Seen, die die Schwäne jedes Jahr aufsuchten, um ihre Jungen auszubrüten und in dem klaren, blauen
Wasser zu schwimmen.
Jenseits des Tals jedoch, etwa zwanzig Meilen weiter östlich, erhob sich der Eluru wie eine riesige Pyramide aus
Granit und Eis. Hinter ihm ragten die Gipfel der Culhadoshkette empor, die sogar noch höher waren und die
Königreiche Waas und Mesh voneinander trennten. Weiter im Süden, ungefähr vierundfünfzig Meilen entfernt
von hier, wenn man die Fluglinie eines Raben zu Grunde legte, lag die nebelverhangene Wand des Itarsu, auf
dessen schmalen Pässen meine Ahnen mehr als einmal angreifende Heere der Sarni niedergemetzelt hatten, die
von den großen, grauen Ebenen gekommen waren. Hinter uns und oberhalb der Hügel, von denen wir an diesem
Tag aufgebrochen waren, erhoben sich
- gleich westlich der bärenverseuchten Wälder, die wir betreten wollten
- drei der größten und schönsten Gipfel des Zentralgebirges: der Telshar, der Arakel und der Vayu. Dies waren
die Berge meiner Seele; hier, so fand ich, war das Herz des Morgengebirges, vielleicht auch das von ganz Ea.
Als Junge hatte ich in den Wäldern an ihren Flanken gespielt und Lieder für ihre stummen, steinernen Antlitze
gesungen. Sie erhoben sich wie Götter hinter den Häusern und Zinnen von Silvassu: der strahlende Vayu ein
paar Meilen weiter südlich, Arakel im Westen jenseits der rasch dahinfließenden Kurash, und schließlich
Telshar, der Große, auf dessen unteren Hängen die Väter meines Großvaters die Burg Elahad errichtet hatten.
Einmal hatte ich diesen leuchtenden Berg bestiegen und von seinem Gipfel aus gen Norden geblickt; ich hatte
hinter dem Diamantenfluss die Gipfel des Raaskel und des Korukel glitzern sehen, und jenseits dieser
schweigenden Wächter die weißen Berge von Ishka. Aber natürlich hatte ich mich mein Leben lang bemüht,
nicht in diese Richtung zu schauen.
Maram folgte jetzt der Linie von Asarus ausgestreckter Hand. Er blickte in den dunklen Wald, der unser harrte,
und murmelte: »Oh, wo bin ich nur? Verloren, in der Tat verloren.«
In diesem Augenblick ertönte, wie als Antwort auf eine stumme Bitte von ihm, das langsame Klipp-Klapp von
Pferdehufen. Ich drehte mich um und sah einen weißhaarigen Mann über das Feld auf uns zukommen, die Zügel
eines Zugpferdes in der Hand. Er trug eine Klappe
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über dem rechten Auge und humpelte sichtbar, als wäre sein Knie einmal vom Schlag eines Streitkolbens oder
Dreschflegels zerschmettert worden. Ich wusste, dass ich diesen alten Bauern schon einmal gesehen hatte, doch
ich konnte mich nicht erinnern, wo genau das gewesen war.
»Hallo, junge Herren«, rief er beim Näher kommen. »Ein schöner Tag für die Jagd, nicht wahr?«
Maram musterte die verschmutzte Wollkleidung des Bauern, die nach Pferdedung und Schweinen stank.
Angeekelt rümpfte er die fette Nase. Asaru jedoch, der ein schärferes Auge besaß, bemerkte den glitzernden
Ring an einem knorrigen Finger sofort. Auch mir fiel er auf: ein schlichter Silberring mit vier strahlenden
Diamanten. Der Ring eines Kriegers und Lords.
»Lord Harsha«, grüßte Asaru, als er ihn schließlich erkannte. »Es ist lange her.«
»Ja, das ist es«, erwiderte Lord Harsha. Er sah erst Asarus Junker an, dann Maram und mich. »Wer sind Eure
Freunde?«
»Verzeiht«, sagte Asaru. »Darf ich Euch Joshu Kadar von Lashku vorstellen?«
Lord Harsha nickte dem Junker meines Bruders zu. »Euer Vater ist ein guter Mann. Wir haben zusammen gegen
Waas gekämpft.«
Der junge Joshu verneigte sich tief, wie es seinem Rang entsprach, dann blieb er stumm stehen und sonnte sich
im Glanz von Lord Harshas Kompliment.
»Und dies hier«, fuhr Asaru fort, »ist Prinz Maram Marshayk von Delu. Er ist ein Schüler der Brüder.«
Lord Harsha betrachtete ihn mit seinem einen Auge. »Stimmt es denn nicht, dass die Brüder keine Tiere jagen?«,
fragte er.
»Oh, das stimmt allerdings«, antwortete Maram und griff nach seinem Bogen. »Wir jagen nach Wissen. Ich bin
nur mitgekommen, um meinen Freund zu beschützen, für den Fall, dass wir auf Bären stoßen.«
Jetzt wandte Lord Harsha Asaru und mir seine Aufmerksamkeit zu. Sein Blick huschte zwischen meinem Bruder
und mir hin und her, bevor er sich ähnlich den Strahlen der Sonne in meine Stirn bohrte.
»Ihr müsst Valashu Elahad sein«, meinte er dann.
In diesem Augenblick lief Marams Gesicht um meinetwillen vor Zorn rot an. Ich wusste, dass ihm das valarische
System der Ehrbezeu-
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gungen und Ränge nicht gefiel. Es musste ihm sauer aufstoßen, dass ein alter Mann, der nicht von edlem Blut,
sondern bloß ein Bauer war, als höherrangig behandelt wurde als ein Prinz.
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