Die Zeit 2010 23.pdf

(14479 KB) Pobierz
DIE ZEIT
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
2. Juni 2010 DIE ZEIT N o 23
PREIS DEUTSCHLAND 3,80 €
Geschlechtertausch
Jungs mit Puppen, Mädchen
mit Bauklötzen – die neuen
Rollenspiele im Kindergarten
Wissen Seite 33
Ein Mann
sagt Nein
Die große Party
Das WM-Interview mit
Bundestrainer Jogi Löw
Didier Drogba – eine Reise
durch die Welt des besten
Fußballspielers Afrikas
Magazin
Wir waren Helden – was
aus den Weltmeistern von
1990 geworden ist
Dossier Seite 13–15
Ein Zehnjähriger erzählt
von seiner WM-Vorfreude
Kinderzeit Seite 39
Was heißt es für Deutschland,
dass Horst Köhler,
der beliebteste Politiker, hinschmeißt?
POLITIK SEITE 2–4
Das Volk ist dran
Nach den Rücktritten von Horst Köhler und Roland Koch: Das
System Merkel taugt für diese Krise nicht VON BERND ULRICH
Kämpfen bis zur
Selbstzerstörung
Freu d ich, k leiner
Götterfunken!
Israel treibt immer tiefer in die
politische Einsamkeit VON JAN ROSS
Lena siegt – und ein Land dreht
durch VON CHRISTOPH AMEND
W ie von böser historischer Geis-
W enn noch irgendjemand we-
M an wundert sich ja fast, dass
promiss hieß: Horst Köhler, der durchaus ein
guter Präsident hätte sein können – unter nor-
malen Umständen, die wir nicht mehr haben
und so bald nicht wiederbekommen.
Nun könnte man sagen, das war 2004, als
die Welt noch nicht ganz so in Unordnung war.
Doch hat Angela Merkel auch zu Beginn der
neuen, schwarz-gelben Regierung die falschen
Signale gesetzt. Obwohl sie zumindest ahnte,
dass schwere Zeiten bevorstünden, hat sie die
allerkleinste Münze zur Leitwährung ihrer neu-
en Regierung werden lassen. Die Sorgen grenz-
naher (CSU) oder befreundeter (FDP) Hote-
liers waren so wichtig, dass damit die ersten
Monate komplett verdorben wurden. Dann die
Rücksichten auf irreale Steuersenkungsverspre-
chen der FDP, der politische Attentismus mit
Blick auf die Wahlen in NRW. Alles so, als wäre
nichts Bedeutenderes im Gange.
Viel zu spät hat Angela Merkel damit be-
gonnen, eine Atmosphäre von Größe, Dring-
lichkeit und Standhalten zu schaffen. Eine
Stimmung, in der Roland Koch sich hätte schä-
men müssen zu gehen, weil es wie Desertion
ausgesehen hätte, was es wohl auch war. Eine
Atmosphäre, in der Horst Köhler sich entweder
etwas mehr angestrengt oder aber in seinem
Schloss ausgeharrt hätte, bis sein Rücktritt die
Menschen nicht noch weiter verunsichert hät-
te, was er im Moment sicher tut.
Wenn die Kanzlerin nicht zeigt, dass es sich
um eine Phase handelt, in der politischer Pa-
triotismus erforderlich ist, darf sie sich über
mangelnden Patriotismus nicht wundern.
Nun hat sie unversehens die Gelegenheit,
wiederum ein Zeichen zu setzen: Innerhalb von
dreißig Tagen muss ein neuer Bundespräsident
her. Formal betrachtet, ähnelt die Ausgangslage
arg der von 2004. Schwarz-Gelb hat die Mehr-
heit, die ohnehin geschwächten Liberalen wol-
len nicht gern einen reinen Unionisten, die
Christdemokraten keinen FDPler. Ist also alles
wie immer? Droht der machtmathematische
Normalvollzug? Wird ein Minimalkompro-
misskandidat gesucht? Oder, wenn der nicht
zur Hand ist, vielleicht ein kleiner Ringtausch?
Norbert Lammert, CDU, Bundestagspräsident
wird Bundespräsident, dafür bekommt die
FDP den Posten des Bundestagspräsidenten?
Das alles wäre trostlos.
Sicher ist zweierlei: Der nächste Bundesprä-
sident muss von Statur sein, er muss reden
können, etwas von Wirtschaft verstehen, aber
noch mehr von Demokratie. Und: Es ist dies-
mal nicht wichtig, ob er gelb oder schwarz ge-
nug ist. In den letzten Monaten wurde Politik
so gemacht, dass es den Parteien entsprach,
jetzt wäre mal wieder das Volk dran.
Angela Merkel hat am Montag gesagt, sie
wachse mit ihren Aufgaben. Dann wird sie ja
noch ziemlich groß.
Treue Schä fchen
Datenpannen ohne Ende.
Trotzdem bleibt Facebook
angesagt. Warum eigentlich?
Wirtschaft Seite 19/20
terhand geleitet, so unaufhalt-
sam vollzieht sich vor unseren
Augen eine Tragödie, die wir
uns fast gar nicht mehr bewusst
machen: die politische Vereinsamung Israels.
Nur noch wenige treue Freunde haben die
letzten Kriege, die das Land geführt hat, 2006
im Libanon und 2008/2009 im Gaza-Streifen,
gegen Hisbollah und Hamas, als angemessene
Selbstverteidigung akzeptiert. Mit Barack Oba-
ma regiert in Washington ein Präsident, der zum
Hauptverbündeten im Nahen Osten eine bei-
spiellos distanzierte Haltung pflegt. Die Welt
ist froh über Obama, in Israel wird ihm misstraut
– klarer lässt sich die Isolation nicht illustrieren.
Die blutige Militäraktion, mit der Israel am
frühen Montagmorgen einen Schiffskonvoi von
Protestaktivisten daran gehindert hat, den abge-
riegelten Gaza-Streifen zu erreichen, wird die
globale Verbitterung noch verschärfen.
Wie der genaue Hergang war, mit wie viel
Gewalt die Passagiere selbst zur Eskalation
beigetragen haben, das könnte nur eine un-
abhängige Untersuchung klären, wie auch die
Bundeskanzlerin sie anregt. Aber das Gesamt-
bild des israelischen Handelns – die Blockade
des Gaza-Streifens, das Entern des Schiffes in
einer Kommandoaktion, die Todesopfer –
rechtfertigt den Vorwurf der Maßlosigkeit.
Israels Recht auf Selbstverteidigung wird
im Westen nicht infrage gestellt. Die Sicher-
heitslage des Landes bleibt einmalig prekär.
Dass es sich etwa für die Idee eines atomwaf-
fenfreien Nahen Ostens nicht zu begeistern
vermag, dass es auf den Schutz der eigenen
(nie offiziell bestätigten) Nuklearrüstung nicht
verzichten will, macht ein Blick auf die Land-
karte verständlich. Noch immer ist Israel ein
Staat, dem wichtige Nachbarn das Existenz-
recht bestreiten, ganz gleich, wie vernünftig
und friedlich er sich verhält.
Es ist aber auch ein Staat, der zunehmend
wie in einer moralischen Sonderwelt agiert,
bedrängt vom Gefühl des Alleinseins und da-
durch vermeintlich ermächtigt zu rücksichts-
losem Zuschlagen. Dies ist das Bewusstsein,
das sich in Aktionen wie am Montag aus-
zudrücken scheint, ein Bewusstsein, das dem
Rest der Welt nicht mehr zu vermitteln und
mit der politischen Kultur der Gegenwart
nicht mehr zu verbinden ist. Israels Freunde
müssen seine Freunde bleiben, um den Ein-
druck der Verlassenheit nicht noch zu ver-
schlimmern. Aber ohne einen Kurswechsel
des Landes selbst wird die fatale Entwicklung
nicht aufzuhalten sein. Die gegenwärtige Poli-
tik treibt Israel in einen Tunnel, der immer
enger wird und immer dunkler.
gen irgendetwas zurücktreten
möchte, dann bitte gleich, dann
haben wir es in einem Aufwasch
hinter uns. Oder muss man
eher Mitleid haben mit den Flüchtigen?
Die letzten Sekunden des Bundespräsiden-
ten Horst Köhler lösen widersprüchliche Ge-
fühle aus. Wie er da Hand in Hand mit seiner
Frau dem Ausgang des Schlosses Bellevue zu-
strebte, das hatte etwas Anrührendes. Man
fragte sich, wie übel dem Mann mitgespielt
worden sein muss, dass er so geht. Gleichzeitig
war Horst Köhlers Abgang unwürdig. Kann
einer wegen dem bisschen Gegenwind aus dem
Amt fliehen, darf er es in einer für das Land so
kritischen Phase? Hat er in den Tagen vor sei-
nem Entschluss an »die Menschen« gedacht,
von denen er immer spricht, oder doch nur an
den einen Menschen: Horst Köhler?
Demgegenüber wirkte der Abgang der Vor-
woche fast schon souverän. Roland Koch stellte
fest, dass die Politik nicht sein Leben sei, und
schob hinterher, seine Gestaltungsmöglichkei-
ten seien nicht mehr groß genug – für einen wie
ihn, durfte man im Stillen hinzufügen.
Aber stimmte das überhaupt? Roland Koch
ist einer der mächtigsten Ministerpräsidenten,
in seinem Land liegt die Bankenstadt Frank-
furt, er ist CDU-Vize, und wie kaum ein ande-
rer besitzt er Autorität auf jenem Politikfeld,
das zurzeit existenziell wichtig ist: der Finanz-
politik, dem Sparen.
Insofern lassen sich beide Rücktritte als
Flucht vor den Härten der gegenwärtigen Poli-
tik lesen. Köhler, wiewohl Währungsexperte,
fand kaum rechte Worte für die Finanzkrise
und verlor sich dann in einer außenpolitischen
Ersatzhandlung. Kurzum: Er konnte es nicht.
Koch hat den Tiefpunkt der schlimmsten
fiskalischen und europapolitischen Krise seit
Jahrzehnten zum idealen Zeitpunkt erkoren,
jetzt endlich mal an sich zu denken. Kurzum:
Er wollte nicht.
Beide Rücktritte zeigen, wie groß der Druck
der seit anderthalb Jahren tobenden Dauer-
krise ist. Schonungslos werden fachliche oder
menschliche Schwächen aufgedeckt, die Mü-
den winken ab, die Traurigen resignieren, die
Nervösen drehen durch. So erklärt sich, dass
dieses Land derzeit keinen Bundespräsidenten
hat und keinen führenden Konservativen mehr,
keinen wirklich amtierenden Vizekanzler und
keinen präsenten Wirtschaftsminister. Also al-
les Memmen außer »Mutti«?
Nein, auch die Kanzlerin durchlebt die
schwächste Phase ihrer Amtszeit. Und was noch
schlimmer ist: Mehr und mehr erweist sich,
dass das System Merkel für diese Krise nicht
gebaut ist. Horst Köhler etwa wurde vor sechs
Jahren aus einer Not heraus gefunden. Weil die
FDP keinen reinen CDUler wollte und die
Union keinen richtigen Liberalen. Der Kom-
Lena Meyer-Landrut, zumin-
dest bis Redaktionsschluss, das
Amt des Bundespräsidenten
noch nicht angeboten wurde.
Als die Gewinnerin des Eurovision Song Con-
tests am Sonntag mit dem Flugzeug in Deutsch-
land landete, wurde sie von Niedersachsens
Ministerpräsident Christian Wulff wie ein Staats-
gast empfangen – die Grüße der Bundeskanzlerin
richtete er gleich mit aus. Dann wurde die 19
Jahre alte Lena Meyer-Landrut live im Fernsehen
gefragt, was sie tun werde, wenn sie nach Hau-
se komme. Sie antwortete in ihrer typischen
Mischung aus Leichtigkeit und Selbstreflexion:
»Schlafen, essen. Und denken.«
Kreischende Fans, devote Politiker, dazu
eine ARD, die ihre Lena immer wieder ins
Programm hob (und ihr damit größeres Ge-
wicht gab als dem Rücktritt Roland Kochs):
Wie kommt es zu diesem Wirbel um eine
Sängerin, die gar nicht so gut singen kann?
Wie zu Einschaltquoten, die sonst nur bei
Fußballweltmeisterschaften üblich sind?
Auf der Bühne von Oslo hielt Lena Meyer-
Landrut nach ihrem Sieg ganz selbstverständ-
lich eine schwarz-rot-goldene Fahne in der
linken Hand, aber sie schwenkte sie nicht
triumphierend. Diese Geste war typisch für
sie, und sie hatte etwas Lässiges, so wie viele
Deutsche ihr Land heute gern sehen: erfolg-
reich, aber nicht um jeden Preis, kein falscher
Stolz, aber auch kein schlechtes Gewissen.
Ziemlich cool: Wir haben kein Problem mit
unserem Land, aber wir trumpfen nicht gleich
auf deshalb.
Lena Meyer-Landrut macht nicht alles mit,
das macht sie sympathisch. Sie weigert sich,
ihr Privatleben ausschlachten zu lassen, spricht
nicht mit der Bild- Zeitung und nicht mit
RTL. Die Familie und ihr Umfeld in Hanno-
ver schwiegen. Auch so wurde ein Publikum
zum Komplizen seiner Sängerin.
Zudem verweigerte sie sich auch noch der
Pathos-Maschinerie des Eurovision Song
Contests. Sie hat weder ihren merkwürdigen
englischen Akzent noch ihre merkwürdige
Art zu tanzen abgelegt – und sich Eigenstän-
digkeit bewahrt. Sie hat sich nicht stylen las-
sen in einer immer durchgestylteren Welt.
Das ist ihr Stil.
Die Deutschen sind aber auch begeistert,
weil die Europäer begeistert sind: Es stimmt
eben nicht, dass niemand die bösen, bösen
Deutschen mag, auch in der Finanzkrise sind
wir nicht der Buhmann. Schade, dass sich ei-
nige Zuschauer selbst an diesem Abend nicht
richtig freuen konnten und Onlineforen mit
antisemitischen Parolen füllten. Lena hatte
nichts falsch gemacht. Aber Israel hat an die
Deutsche keine Punkte vergeben.
PROMINENT IGNORIERT
Normalverbraucher
Birgit Homburger, die Fraktions-
chefin der FDP, hat in Bild gesagt:
»Steuererhöhungen für Otto Nor-
malverbraucher wird die FDP nicht
zulassen.« Was heißen kann, dass
die Steuersenkungspartei FDP
Steuererhöhungen durchaus zulas-
sen wird, wenngleich nicht für
Otto Normalverbraucher, der von
ferne an den Ottomotor mit Nor-
malbenzin erinnert, aber wir fahren
ja alle Super, die armen Hoteliers
vielleicht ausgenommen.
GRN.
Kl. Abb. (v.o.n.u.): Achim Lippoth/www.lippoth.com;
Hangst/Witters; Smetek für DZ; action press
ZEIT Online GmbH: www.zeit.de;
ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
ABONNENTENSERVICE:
Tel. 0180 - 52 52 909*,
Fax 0180 - 52 52 908*,
E-Mail: abo@zeit.de
*) 0,14 €/Min. aus dem deutschen Festnetz,
Mobilfunkpreise können abweichen
PREISE IM AUSLAND:
DKR 41,00/NOR 56,00/FIN 6,40/E 4,90/
Kanaren 5,10/F 4,90/NL 4,30/A 4,10/
CHF 7.10/I 4,90/GR 5,50/B 4,30/P 4,90/
L 4,30/HUF 1420,00
AUSGABE:
23
65. JAHRGANG
C 7451 C
Siehe auch Politik, Seite 5
www.zeit.de/audio
www.zeit.de/audio
www.zeit.de/audio
799055722.050.png 799055722.059.png 799055722.060.png 799055722.061.png 799055722.001.png 799055722.002.png 799055722.003.png 799055722.004.png 799055722.005.png 799055722.006.png 799055722.007.png 799055722.008.png 799055722.009.png 799055722.010.png 799055722.011.png 799055722.012.png 799055722.013.png 799055722.014.png 799055722.015.png 799055722.016.png 799055722.017.png 799055722.018.png 799055722.019.png 799055722.020.png 799055722.021.png 799055722.022.png 799055722.023.png 799055722.024.png 799055722.025.png 799055722.026.png 799055722.027.png 799055722.028.png 799055722.029.png 799055722.030.png 799055722.031.png 799055722.032.png
 
2
POLITIK
2. Juni 2010 DIE ZEIT N o 23
Wor te de r Wo c he
Pflicht
Es war mir eine Ehre,
Deutschland als Bundes-
präsident zu dienen.«
Horst Köhler, Bundespräsident, in
seiner Rücktrittserklärung
»Ich bedauere diesen Rücktritt aufs
Allerhärteste.«
Angela Merkel, Bundeskanzlerin (CDU), über
Köhlers Abschied als Staatsoberhaupt
»Ich kann’s kaum glauben.«
Annette Schavan, Bundesbildungsministerin (CDU),
zum selben Thema
»An einem bestimmten Punkt tritt
für einen Politiker ein Verschleiß-
prozess ein, der größer ist als seine
Gestaltungsmacht.«
Roland Koch, hessischer Ministerpräsident (CDU), über
die Gründe für sein Ausscheiden aus der Politik
»Früh aufstehen ist ja noch kein
Wert an sich.«
Jens Bullerjahn, Finanzminister Sachsen-Anhalts (SPD),
über den Slogan »Wir stehen früher auf«, mit dem sein
Bundesland wirbt
»Ich will nichts beschönigen, der
Zustand der FDP ist nicht gut,
zufrieden kann ich nicht sein.«
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Bundesjustizministerin (FDP), über die Verfassung
ihrer Partei
»Es ist schrecklich, dass sie passiert
ist, aber politisch hätte sie zu keiner
besseren Zeit passieren können.«
Jerome Ringo, US-Umweltaktivist, über die Ölpest im
Golf von Mexiko
»Wir bedauern, dass es Opfer
gegeben hat, aber die
Verantwortung liegt bei den
Organisatoren der Flottille.«
Ehud Barak, israelischer Verteidigungsminister,
über den blutigen Zwischenfall im Mittelmeer
»Was Israel an Bord des Schiffes
angerichtet hat, war ein Massaker.«
Machmud Abbas, Präsident der Palästinensischen
Autonomiebehörde, zum selben Thema
»Wir verfluchen sie
mit aller Macht.«
Bülent Arınç, türkischer Vize-Ministerpräsident,
über die Israelis
»Wenn ich die Mannschaft dieses
Jahr trainiert hätte, hätte ich die
Meisterschaft mit fünf bis sechs
Punkten Vorsprung gewonnen.«
Silvio Berlusconi, italienischer Regierungschef und
Besitzer des Fußballklubs AC Mailand, über sein
Potenzial als Trainer
»Hallo, ich bin Lena. Ich bin 19
und komme aus Hannover. Und ich
habe heute den Eurovision Song
Contest gewonnen.«
Lena Meyer-Landrut, Sängerin, nach ihrem
Sieg in Oslo
vergessen
Mit dem Amt wächst auch die
Anforderung an einen Rücktritt
VON ROBERT LEICHT
Da war er noch Präsident: Horst Köhler erwartet einen Staatsgast vor dem Schloss Bellevue
V on einem so hohen und singulären Amt
hinzunehmen – das Amt aber nimmt einen gewis-
sen Schaden.
Der Rückzug, nicht ohne einen Zug der Weh-
leidigkeit, passte so gar nicht zu der ursprünglichen
Ankündigung Köhlers, er wolle gegebenenfalls ein
»unbequemer Präsident« sein. Wer so etwas – und
zwar ohne Not – vorab verkündet, muss sich zu-
mindest den Belastungsproben gewachsen zeigen,
die ein solcher Anspruch un-
weigerlich mit sich bringt.
Stolze Ambition damals, zage
Frustration heute – was in
diesem Gegensatz nicht zu-
einanderpasst, verweist, von
heute aus betrachtet, zurück
auf die ursprünglichen und nie
ausgeräumten Ungereimthei-
ten im Amtsverständnis des
im Übrigen durchaus liebenswerten Horst Köhler.
Horst Köhler wollte im Grunde ein Präsident sein,
der die Parteien nicht nötig hat. Das kann aber nicht
gut gehen, wenn man auf die Politik gestaltend ein-
wirken will, die doch nur von in Wahlen legitimier-
ten Politikern gemacht werden kann. Es gibt eben
keine Politik an der parlamentarischen Mandats-
macht vorbei, auch nicht durch präsidiale Reden und
Ansichten. Das musste schon Richard von Weizsä-
cker erfahren, als er – »zusammenwachsen, aber nicht
zusammenwuchern« – einen anderen Weg zur Wie-
dervereinigung vorzeichnen wollte als Helmut Kohl
und Willy Brandt (»Jetzt wächst zusammen, was zu-
sammengehört«). Aber was schon Weizsäcker mit
seinen autoritativen Reden nicht gelingen konnte,
musste sich bei den nicht eben charismatischen Re-
den Köhlers als Ding der Unmöglichkeit erweisen.
Irgendwann muss jeder Bundespräsident erkennen,
dass dieses auf Integration und Repräsentation – bei-
de Dimensionen sind alles andere als unwichtig! –
angelegte Amt nicht dazu da ist, eine eigene kontro-
verse politische Agenda jenseits oder im Gegensatz
zur parlamentarischen Politik zu verfolgen.
In seiner Rücktrittserklärung beklagte sich
Köhler also über den fehlenden Respekt vor sei-
nem Amt. Auch hier schlägt
ein Missverständnis des
Amtes an sich durch. Die
Akte und Verfügungen des
Bundespräsidenten, auch
seine wichtigeren Reden,
bedürfen nach der Verfas-
sung der Gegenzeichnung
durch das zuständige Mit-
glied der Bundesregierung.
Der tiefere Sinn dieser Regelung ist folgender: Der
Bundespräsident soll einerseits öffentlich nicht
getadelt werden – andererseits nicht jenseits aller
parlamentarischen Kontrolle agieren. Das Instru-
ment der Gegenzeichnung ermöglicht eine so-
zusagen mittelbare parlamentarische Kritik des
Präsidentenhandelns, ohne ihn als Person an-
zugreifen – indem man einfach den gegenzeich-
nenden Minister oder Kanzler im Parlament für
seine Contrasignatur zur Rede stellt. Nach dem
Attentat auf die israelische Olympiamannschaft
1972 in München flogen Bundespräsident Gustav
Heinemann und Außenminister Walter Scheel ge-
meinsam zur Gedenkfeier nach München. Scheel
verlangte die Rede zu lesen, die Heinemann halten
wollte. Im Manuskript fand sich ein Satz, der den
arabischen Nachbarstaaten Israels die Schuld für
die Förderung dieses Terrors zuwies. Scheel bat –
Pflicht zur Gegenzeichnung! – um die Streichung
dieses Satzes. Heinemann erwiderte: Dann halte
er die ganze Rede nicht. Scheel gab nach, hätte
aber im Falle einer parlamentarischen Rüge die
Kritik ganz auf sich nehmen müssen.
Je weiter sich aber ein Präsident ohne diese Rü-
ckendeckung (und beratende Kontrolle durch Re-
gierungsmitglieder) aus dem Fenster lehnt, desto
weniger kann er verlangen, dass er als Person der
Kritik entzogen bleibt. Wohl wahr, dass Jürgen
Trittin, der Köhlers jüngste Äußerungen zu Mili-
täreinsätzen mit Heinrich Lübkes alterskranken
Patzern verglich, eine unsägliche Taktlosigkeit be-
ging – und zudem sachlich falsch lag. Es hätte sich
in der politischen Klasse gerne jemand finden
dürfen, der den nicht eben taktfeinen Trittin in
die Schranken der Höflichkeit verweist. Doch eine
Legitimation für einen Rücktritt gibt die Sache
nicht her. Und bei solchen Ämtern braucht auch
ein Rücktritt nicht weniger eine Legitimation als
ein Antritt. »Mein Amt«, sagte Köhler am Mon-
tag. Nein, nicht er hat ein Amt, als sei es seines –
das Amt hat vielmehr zuerst einmal ihn.
Im Grunde bleibt eine objektiv hilflose Parado-
xie zurück: Da will einer unbequem sein – und
flieht vor den Unbequemlichkeiten der Unbe-
quemlichkeit. Da plädiert jemand für eine künfti-
ge Direktwahl des Bundespräsidenten, obwohl er
ohne die indirekte Wahl selber nie Präsident ge-
worden wäre. Und nun legt er, obwohl ihn die
lieben Bürger immer noch mögen, das Amt den
bösen Politikern wieder hin. Wie einsam muss je-
mand gewesen sein, der diese Spannungen nicht
mehr aushalten wollte?
wie dem des Staatsoberhaupts kann man
nur zurücktreten, wenn man es muss
(aus Gründen der schlechten Gesundheit
oder wegen eines gravierenden Fehltrittes), nicht
aber einfach, wenn man es will. Auch das gehört
zu dem Respekt vor dem Amt, den Horst Köhler
bei seiner Rücktrittserklärung beschworen hat: Je
höher das Amt, desto strenger die Anforderungen
an das objektive Amtsethos, auch an die subjektive
Bereitschaft zum Durchhalten.
Darin unterscheidet sich dieser vorzeitige Ab-
bruch einer Präsidentschaft scharf von dem ein-
zigen anderen Beispiel: dem vorzeitigen Abschied
Heinrich Lübkes aus der Villa Hammerschmidt in
Bonn. Lübke war bereits zu Beginn seiner zweiten
Amtszeit seines Alters wegen gesundheitlich so an-
geschlagen, dass es eigentlich unfair war, ihn we-
gen mancher rhetorischer Ausfallerscheinungen
höhnisch zu verspotten. Immerhin hatte auch die
SPD ihn zur erneuten Kandidatur gebeten (die
erhoffte Große Koalition schon im Visier). Im
Oktober 1968, ein Jahr vor dem regulären Ende
seiner zweiten Amtszeit, kündigte Lübke dann –
nicht mehr ganz freiwillig – seinen Rücktritt für
den 30. Juni 1969 an. Zur Gesichtswahrung hieß
es damals, auf diese Weise lasse sich vermeiden,
dass die Neuwahl eines Bundespräsidenten mitten
in den Schluss des Bundestagswahlkampfes falle.
Entsprach der Rücktritt Heinrich Lübkes also
einem von langer Hand vorbereiteten politischen
Arrangement, so warf Horst Köhler die Brocken
einfach hin – und das ohne zwingende Begrün-
dung. Dass auf diese Weise vor allem den Regie-
rungsparteien einiges Ungemach droht wäre noch
TITELGESCHICHTE
799055722.033.png 799055722.034.png
POLITIK
3
2. Juni 2010 DIE ZEIT N o 23
Auf dem Weg zum
Rücktritt. Horst
Köhler mit seiner
Frau Eva Luise
Ein Mann guten Willens
Die Krise von Horst Köhler begann vor vielen Monaten. Wer ihm genau zuhörte, konnte ahnen, dass etwas richtig schiefl ief VON MATTHIAS NASS
D as Schlüsselwort für diesen beispiel-
Köhler wuchs der Verdruss. Aus der Enttäuschung
wurde regelrechte Wut. Und doch, er schwieg
weiter. Musste nicht auch er der Koalition eine
Frist von 100 Tagen geben? Und überhaupt: Hätte
es sich für das Staatsoberhaupt gehört, sich in tages-
politische Fragen einzumischen?
Dieser Vorwurf war ihm in seiner ersten Amts-
zeit immer wieder gemacht worden. Gerade von
Sozialdemokraten, die ihm anlasteten, er stilisiere
sich als »Überkanzler«. Erst Ende März brach
Köhler sein Schweigen. In einem Focus- Interview
nannte er die ersten Monate der neuen Regierung
»enttäuschend«. Nun waren Union und Liberale
pikiert.
Dieser Bundespräsident hat es niemandem in
der politischen Klasse recht machen können. Er
kam von außen und blieb sechs Jahre lang in Berlin
ein Fremder. »Netzwerkerei ist nicht meine Stär-
ke«, sagte er. Er, der nie um ein Parlamentsmandat
gekämpft hatte, der seine Karriere als Beamter, als
Staatssekretär, als Sparkassenchef und schließlich
als Direktor des Internationalen Währungsfonds
gemacht hatte, konnte die Kluft zu »den Politi-
kern«, wie er selbst sagte, nicht überwinden.
raschte viele. »Freiheit ist kein Vorrecht, die besten
Plätze für sich selbst zu reservieren«, rief er. Der
Markt allein werde es nicht richten. »Es braucht
einen starken Staat, der dem Markt Regeln setzt
und für ihre Durchsetzung sorgt.«
War das noch der marktliberale Köhler, der mit
der Parole angetreten war, Deutschland müsse
endlich ernst machen mit der Erneuerung? Wie
sonst solle es in einer globalisierten Welt wett-
bewerbsfähig bleiben? Er wollte das Tempo stei-
gern, die von Gerhard Schröder begonnenen Re-
formen beschleunigen.
Am Ende der ersten Amtszeit wurde sein Ton
nachdenklicher. Er wehrte sich gegen das Etikett
des Neoliberalen. Er begann den »Washington-
Konsens« zu kritisieren, jene reine Lehre der
Marktwirtschaft, für die keine andere Institution
mehr steht als der Internationale Währungsfonds.
Der Modernisierungs-Enthusiast mutierte zum
Wachstumsskeptiker. »Wir können uns nicht mehr
hauptsächlich auf wirtschaftliches Wachstum als
Problemlöser und Friedensstifter in unseren Ge-
sellschaften verlassen.«
Aber wieder hörte niemand auf Horst Köhler.
Er spürte dies, und es kränkte ihn. Schon vor ei-
nem Jahr, vor seiner Wiederwahl, meinte man, im
Gespräch mit ihm den Zweifel herauszuhören, ob
das Amt des Bundespräsidenten wirklich die rich-
tige Aufgabe für ihn sei. Er sei doch eigentlich ein
»Technokrat« sagte er über sich. Kein anderer Poli-
tiker hätte sich eine solche Melancholie gestattet.
Horst Köhler forschte freimütig den eigenen
Schwächen nach. Wenn er dann am Ende resü-
mierte: »Ich bin am richtigen Platz«, dann nahm er
es hin, wenn man dies skeptisch notierte.
Die Deutschen mochten diesen Bundesprä-
sidenten, viele bewunderten ihn. Vielleicht weil
sie sich in ihm wiederfanden: gewissenhaft, streb-
sam, etwas bieder, konservativ. Mit enormem
Fleiß hat sich Horst Köhler aus ärmlichsten Ver-
hältnissen emporgearbeitet; nicht eine Spur von
Glamour hat ihn umgeben. Er war ein unbeholfe-
ner, fast linkischer Redner. Aber niemand hätte
ihm abgesprochen, dass er es ehrlich meint. Ein
Mann guten Willens.
dies bewusst. Er hat unter der schwarz-gelben Re-
gierung gelitten, auf die er doch so viele Hoffnun-
gen gesetzt hatte, er hätte seine Kritik gern laut
herausgeschrien. Aber das darf ein Bundesprä-
sident nicht. Er kann nur im Hintergrund wirken.
Dort allerdings muss er Gesprächspartner finden.
Die Berliner Politik jedoch ist ihm, wie die Presse,
mit Desinteresse und Hochmut, ja mit purem
Dünkel begegnet.
In den Wahlkreisen werden die Abgeordneten
jetzt auf einen großen Erklärungsbedarf treffen.
Wie konnte es geschehen, dass ein so beliebter
Bundespräsident, der populärste Politiker des Lan-
des, es im Berliner Haifischbecken schier nicht
mehr ausgehalten hat? Wie isoliert muss Horst
Köhler gewesen sein, dass er – das personifizierte
Pflichtbewusstsein – Schloss Bellevue fluchtartig
verlassen hat?
Sie haben ihn doch erst vor einem Jahr wieder-
gewählt. Da kannten sie seine Schwächen doch
längst. Da hatten sie doch schon fünf Jahre lang
über ihn gewispert und gelästert, hatten mit den
Journalisten über ihn gelacht. Die Leute werden
sich sagen: Wer so mit dem höchsten Amt im Staa-
te umgeht, wer so mit dessen Inhaber umspringt,
dem ist jede Niedertracht zuzutrauen.
Horst Köhler war vielleicht nicht gemacht für
das Amt des Staatsoberhaupts. Er hätte Helfer ge-
braucht, Berater – und die Solidarität derer in der
Union und bei den Liberalen, die ihn in dieses
Amt geholt haben. Köhler ist an sich selbst ge-
scheitert; er weiß es wohl selbst am besten. Aber
mehr noch hat ein Politikbetrieb versagt, in dem
oft genug das kleinste Karo die größte Karriere
macht. Die Selbstzweifel dieses Bundespräsiden-
ten, man wünschte sie sich von den Selbstgewissen,
die sich jetzt das Maul zerreißen und nicht merken,
wie ihnen das Volk davonläuft.
losen, durch und durch unan-
gemessenen Rücktritt lautet »Re-
spekt«. Die Kritik an seinen Äuße-
rungen zu den Auslandseinsätzen
der Bundeswehr, sagte Horst Köhler, lasse »den
notwendigen Respekt für mein Amt vermissen«.
Am Montag legte ein Bundespräsident sein Amt
nieder, der tief verletzt war. Der nicht mehr wollte
und vielleicht auch nicht mehr konnte.
Schon vor Monaten, als in den Medien und
von der Opposition die Kritik an Köhler immer
lauter wurde, als das Wort vom »Schlossgespenst«
die Runde machte, verlangte sogar die Bundes-
kanzlerin, dass »unserem Staatsoberhaupt der not-
wendige Respekt entgegengebracht wird«. Merkels
Wort, wie ernst es auch immer gemeint war, fruch-
tete nichts. Hohn und Spott wurden über dem
Bundespräsidenten ausgegossen. »Horst Lübke«,
ätzte der Spiegel . Und das FAZ- Feuilleton bilan-
zierte: »Ich hatt’ einen Präsidenten …«
Die Krise um Horst Köhler begann, paradox
genug, mit dem Antritt der neuen Bundesregie-
rung im vergangenen Herbst. Dabei hatte Köhlers
Wahl 2004 nach dem Wunsch Angela Merkels
und Guido Westerwelles der Vorbote einer
schwarz-gelben Koalition werden sollen. Stattdes-
sen kam zunächst die Große Koalition. Als Union
und FDP dann endlich gemeinsam regieren konn-
ten, missglückte der Start so gründlich, dass die
Opposition angesichts von Hartz-IV-Streit und
Westerwelles Sozialstaatsattacken (»spätrömische
Dekadenz«) fragte, wann endlich der Bundes-
präsident in die außer Rand und Band geratene
Debatte eingreifen wolle.
Köhler aber schwieg. Dabei war er entsetzt über
den Start der schwarz-gelben Koalition. Sie hatte
doch eine klare Mehrheit, konnte die von ihm ge-
forderten Reformen nun ins Werk setzen! Statt-
dessen lähmte interner Streit die Regierung. Bei
Der abrupte Abgang lässt eine
Präsidentschaft in Trümmern zurück
Umso tragischer mutet sein Scheitern an. Amt und
Person haben nicht zueinandergefunden. Er hat es
nicht geschafft, die von ihm beklagte »Entfrem-
dung« zwischen Politik und Bürgern zu überwin-
den. Er hat kein Thema gefunden – von seinem
bewunderungswürdigen Einsatz für Afrika abge-
sehen (siehe Artikel unten). Er hat die Finanz-
märkte »Monster« genannt, aber dann, als sie wie-
der in großem Stil zu spekulieren begannen, dies-
mal nicht mehr gegen Banken, sondern nun gegen
Staaten, da war von ihm nichts zu hören.
Köhlers abrupter Abgang lässt eine Präsident-
schaft in Trümmern zurück. Mögen Politiker oft
genug ein zu dickes Fell haben – die Dünnhäutig-
keit, die der Bundespräsident offenbart hat, stellt
seine Eignung für das Amt im Nachhinein infrage.
Ein Staatsoberhaupt schmeißt den Bettel nicht
hin. Wenn ihm Kränkungen zugefügt worden
sind, dann hätte er sie im Ruhestand ausheilen
lassen müssen. Oder er hätte nicht für eine zweite
Amtszeit kandidieren dürfen.
Natürlich, Kränkungen sind ihm zugefügt wor-
den. Von einer Presse, die bisweilen die Grenze von
der Kritik zur Schmähung überschritten hat. Horst
Köhler hat unter dem Berliner Medientross gelit-
ten. Er sah dort Anmaßung, Intrige und Unehr-
lichkeit am Werk – bis hin zum offenen Zynismus.
Fassungslos konnte er feststellen, dass es vielen
Journalisten »gar nicht um die Sache« gehe.
Nein, am Ende war dieser Präsident wohl zu
weich für das politische Machtspiel. Ihm selbst war
Sein Ton wurde nachdenklicher. Köhler
forschte den eigenen Schwächen nach
Und doch hätte er als Bundespräsident während der
Finanzkrise die beste Wahl sein können. Als Öko-
nom genoss er weltweites Ansehen, Banker und Fi-
nanzfachleute hatten vor seinem Urteil hohen Res-
pekt. Aber ihn beschlichen Selbstzweifel. Wer hörte
überhaupt zu, wenn er sprach? Er hätte am liebsten
gehandelt, aber er musste repräsentieren, musste
reden. Und gerade das lag ihm nicht.
Einmal ist es ihm gelungen. Im März 2009
sprach er in der Berliner Elisabethkirche über die
Ursachen und die Folgen der Finanzkrise. Die
Schärfe, mit der er damals die Banker angriff, über-
www.zeit.de/audio
Staatsoberhaupt für 30 Tage
Warum ausgerechnet Bremens Bürgermeister nun die Aufgaben des Bundespräsidenten wahrnimmt
Nächste Woche in Afrika?
Eine Begegnung mit Horst Köhler kurz vor seinem Rücktritt
W ie spricht man ihn nun an, den Bremer
V ergangenen Sonntag, 11 Uhr, Schloss
das kleinste der 16 Bundesländer, »und das diese
Rolle nun auf den Bremer Bürgermeister zukom-
men würde, das war nicht vorhersehbar«.
»Diese Rolle« – eigentlich gibt es sie gar nicht. Der
Bundespräsident hat keinen Stellvertreter; auch die
Möglichkeit eines Rücktritts wird im Grundgesetz
nicht erwähnt. Dort heißt es nur, dass der Präsident
des Bundesrates einspringt, falls der Bundespräsident
verhindert ist oder »bei vorzeitiger Erledigung des
Amtes«. Auch für Staatsrechtler ist
Köhlers Entscheidung ohne Beispiel.
Denn verhindert ist der Bundesprä-
sident normalerweise nur, wenn er
im Urlaub ist oder auf Auslandsrei-
sen. Auf diesen Fall, sagt Böhrnsen,
sei er vorbereitet gewesen. Köhlers
Rücktritt hingegen habe ihn wie alle
anderen vollkommen überrascht.
Am Montagmittag, kurz bevor er
die Öffentlichkeit informierte, hatte
Köhler ihn angerufen. Böhrnsen ist
nach dem Gespräch erst einmal zum
Bücherregal gegangen, um im Grundgesetz nach-
zuschlagen: »Ich wollte wissen, in welchem Zeitraum
die Nachfolge geklärt werden muss.«
Protokollarisch ist der Präsident des Bundesrats
zwar einer der höchsten Repräsentanten des Staa-
tes, dennoch wissen normalerweise nur wenige,
wer gerade amtiert. Die 16 Ministerpräsidenten
wechseln sich jährlich ab, die Reihenfolge richtet
sich nach der Bevölkerungszahl der Länder.
Jens Böhrnsen wird in den nächsten vier Wochen
Gesetze unterzeichnen und wenn nötig die Bundes-
republik Deutschland nach außen vertreten. Welche
Termine er von Köhler übernimmt, will er in den
nächsten Tagen entscheiden.
Böhrnsens wichtigste Aufgabe wird es sein, den
Übergang zu organisieren. Er wolle, sagt er, das
Amt in 30 Tagen »geordnet« übergeben. Und falls
er selbst krank werden oder aus anderen Gründen
ausfallen sollte? Dann wäre der erste Stellvertreter
des Bundesratspräsidenten an der Reihe. Zurzeit
ist das der saarländische Ministerpräsident Peter
Müller.
marginalisierten Kontinent ernst, er begegnete
ihnen auf Augenhöhe, von gleich zu gleich.
In Afrika konnte Köhler ganz er selber sein, ein
vom christlichen Humanismus geprägter Mensch
mit einem feinen Gespür für die Sorgen und Nöte
der Afrikaner. Und manchmal schien es, als sei
dieser Erdteil eine Art Rückzugs- und Regenera-
tionsraum, in dem der Präsident die Kontroversen
der Heimat hinter sich lassen konnte.
Niemand im Saal ahnt, dass dies Köhlers letz-
ter größerer Auftritt als Bundespräsident sein wird.
Seine Mitarbeiter wundern sich zwar, dass er kurz-
fristig ein großes Interview über Afrika absagt, das
nach der Matinee geplant war. Und sie rätseln im
Nachhinein, ob zu diesem Zeitpunkt schon sein
folgenschwerer Entschluss feststand.
»Wir sehen uns ja nächste Woche in Süd-
afrika, beim Eröffnungsspiel zur Fußball-
WM«, verabschiedet sich ein Teilnehmer des
Podiums von Horst Köhler. Der Bundesprä-
sident nickt und antwortet lächelnd: »Ja, ja,
nächste Woche.«
Bürgermeister, der für 30 Tage an die
Spitze des Staates rückt – mit Herr Bun-
despräsident? »Nein«, entgegnet Jens Böhrnsen
schnell, »das müssen Sie nicht. Der Präsident des
Bundesrats nimmt zwar laut Grundgesetz die Be-
fugnisse des Bundespräsidenten wahr, aber er ist
nicht Bundespräsident.«
Bloß nicht aufplustern! Keine drei Stunden
sind seit dem Rücktritt Horst Köh-
lers vergangen, und der Mann, der
ihn in den kommenden 30 Tagen
vertreten wird, sitzt in seinem Büro
im Bremer Rathaus, sehr ruhig,
sehr gelassen. Der 60-jährige Sozial-
demokrat ist seit viereinhalb Jahren
Bürgermeister, bislang hat er sich
ganz auf seine Stadt konzentriert.
Ob es ihn kränkt, wenn viele Men-
schen seinen Namen nun zum ers-
ten Mal hören? Ach was, lacht
Böhrnsen. Bremen sei nun einmal
Bellevue. Der Bundespräsident hat im
großen Festsaal zu einer Matinee ge-
laden, und nichts deutet darauf hin, dass er 27
Stunden später seinen Rücktritt erklären wird.
Im Gegenteil, er sitzt gelassen auf dem Podium
und beteiligt sich lebhaft an der Diskussion.
Das Thema heißt »Schicksal Afrika«, das ist
auch der Titel eines Buches, das bei dieser Ver-
anstaltung vorgestellt wird. Es enthält einen
Rückblick auf die Initiative »Partnerschaft mit
Afrika«, die Köhler in Zusammenarbeit mit der
ZEIT-Stiftung 2005 ins Leben gerufen hatte.
Der Bundespräsident wirkt leicht erschöpft,
seine Gesichtsfarbe verrät den Stress der vergan-
genen Tage. Aber er ist ganz bei der Sache, bei
Afrika. Der Kontinent liegt Köhler am Herzen, er
hatte schon als Direktor des Internationalen Wäh-
rungsfonds gute Kontakte mit afrikanischen Po-
litikern geknüpft. Sie schätzten den Deutschen,
weil er sich von allen europäischen Staats- und
Regierungschefs unterschied: Er nahm ihren
Jens Böhrnsen, 60, ist
seit 2005 Bürgermeister
von Bremen
MATTHIAS KRUPA
BARTHOLOMÄUS GRILL
799055722.035.png 799055722.036.png
4
POLITIK
2. Juni 2010 DIE ZEIT N o 23
Die Bundeskanzlerin im
Die Bundeskanzlerin im
Kanzleramt in Berlin
Kanzleramt in Berlin
E uropa in der Krise, die Koalition in der
Kern christlich-liberaler Politik ist? Die Klausur soll
mehr als Sparlisten produzieren, sie soll auch eine
Begründung für das schwarz-gelbe Projekt nachliefern
und den Beweis, dass Sparen nicht das Ende von
politischer Gestaltung bedeutet.
Binnen Tagen muss Merkel und Westerwelle ge-
lingen, was sie über Monate nicht geschafft haben.
Seit der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen
ähnelt das einstige selbst ernannte Dreamteam der
deutschen Politik eher den unfreiwilligen Partnern
aus dem Sträflingsdrama Flucht in Ketten. Aus der
Ein-Themen-Partei FDP ist nach dem Wegfall der
versprochenen Steuersenkun-
gen eine Null-Themen-Partei
geworden. Ihr Beitrag zum
Funktionieren der Koalition
beschränkte sich zuletzt auf
das Produzieren von Mehr-
heiten im Parlament; an einem
strategisch-politischen Schwer-
kraftzentrum mangelt es bei
den Liberalen mehr denn je.
Ihr Vorsitzender Guido Wes-
terwelle ist ungewohnt klein-
laut geworden, ihn umgibt ein
Sympathie- und Machtvaku-
um, das derzeit noch niemand
aus der Partei füllen kann oder
will. Doch auch die Union ist
ein Scheinriese. Aus der Wahl
in NRW ging sie mit einem
Minus von zehn Prozentpunk-
ten hervor. Schon der Abgang
von Roland Koch in der ver-
gangenen Woche hinterließ
die bange Ahnung, dass da
mehr frei wurde als nur ein Platz im Parteiprä-
sidium.
Und nun auch noch der Rücktritt von Horst
Köhler.
Weder ein Seiteneinsteiger wie Köhler noch ein
Politprofi wie Koch hatten in der Politik zuletzt ihren
Platz gefunden. Der beliebteste Politiker des Landes
und einer der konsequentesten Politiker des Landes
– sie gingen, weil es für sie nicht mehr weiterging. So
wird Köhlers Flucht nun – wie schon der Rückzug
von Roland Koch – auch als Anklage gegenüber einer
Kanzlerin gesehen, die Freund und Feind durch
Passivität mattsetzt. Gleichzeitig liefert der Abgang
des im Volk so beliebten Präsidenten – beabsichtigt
oder nicht – dem Volk den Beweis dafür, wie absto-
ßend die Welt der Politik doch ist. Köhler, eben noch
selbst moralische Instanz, verschafft Merkel damit
nicht nur ein machttaktisches, sondern auch ein
moralisches Problem.
Einem Vollblutpolitiker wie Wolfgang Schäuble
wäre solch ein überstürzter Abgang wohl nicht pas-
siert. Als der Finanzminister während der Griechen-
landkrise wochenlang wegen Krankheit ausfiel, war
klar, dass er diskret signalisieren musste, zur Not auch
zurückzutreten – gerade weil er nicht zurücktreten
wollte. Köhler dagegen ging einfach. Und es entbehrt
nicht einer gewissen Ironie, dass Schäuble – der
Mann, der eigentlich Präsident werden wollte, bevor
Köhler es wurde – noch am selben Tag als Nachfolger
gehandelt wird.
Einen Kandidaten Wolfgang Schäuble würde die
FDP jedenfalls sofort unterstützen. Dann wären die
Liberalen den Finanzminister los, der vom ersten
schwarz-gelben Regierungstag an ihre Steuerpläne
durchkreuzt hat. Der Wohlfühlfaktor in der Koali-
tion, er könnte für die FDP durch Köhlers Rücktritt
steigen.
In der FDP-Führungsriege sieht man die Flucht
des Bundespräsidenten Horst Köhler gleich als dop-
pelte Chance, in der Koalition wieder eine bedeuten-
lierer ins höchste Staatsamt zu hieven? Der FDP-
Wunschkandidat Schäuble gilt in der CDU ebenfalls
nicht als Favorit, seine Gesundheit ist nach wie vor
labil, außerdem muss er die Sparpolitik vertreten.
Christian Wulff ist zu jung, Kurt Biedenkopf zu alt.
Annette Schavan und Ursula von der Leyen sind im
Gespräch, aber eine Frau, heißt es, müsse es nicht
unbedingt sein, schließlich ist schon die Kanzlerin
weiblich. Ein Politikaußenseiter auch eher nicht,
erstens hat das, wie man gesehen hat, grundsätzlich
so seine Tücken, und zweitens spricht in einer solchen
krisenhaften Situation einiges für reibungsloses Funk-
tionieren. Bundestagspräsident
Norbert Lammert ist klug und res-
pektabel, aber hat er die nötige
mediale Strahlkraft? Viele Namen
werden gehandelt, den geborenen
Kandidaten gibt es nicht.
Sicher ist, dass die SPD einen
eigenen Kandidaten aufstellt, ver-
mutlich gemeinsam mit den Grü-
nen. Man wolle aber erst abwarten,
wen die Koalition nominiere, sagt
SPD-Generalsekretärin Andrea
Nahles. Dass die Kür des Staats-
oberhauptes – wie damals bei
Horst Köhler – als Vorbote einer
neuen Koalition gedeutet wird und
diese Koalition dann aus Union
und SPD besteht, dieser Gedanke
findet in der Parteispitze wenig
Anhänger. Sicher ist nur: Auch die
SPD will sich nicht zwingend auf
eine Frau festlegen. Und: Auf
keinen Fall wird man Gesine
Schwan noch einmal bitten.
Erst war der Präsident nach seiner Wiederwahl im
Amt verschollen, nun ist das Amt verwaist. Dabei
hätte man die Expertise des Bundespräsidenten brau-
chen können. Gerade in dieser Krise. Gerade ange-
sichts des harten Sparkurses und der damit verbun-
denen Veränderungen, vor denen dieses Land nun
steht. Dass die Finanzmärkte »Monster« sind, wie
Köhler kurz nach dem Ausbruch der Krise öffentlich
sagte, dazu hätte man keinen Ökonomen an der
Spitze der Republik gebraucht. Aber zu erklären, wie
Deutschland sich in den kommenden Monaten und
Jahren verändern wird, ja verändern soll, Orientierung
bieten – das hätte eine Aufgabe für einen Präsidenten
sein können. Jetzt zeigt sich, dass im sogenannten
bürgerlichen Lager eine große Lücke klafft: Es gibt
wenige Unionspolitiker mit Wirtschaftsexpertise.
»Wir haben diesen Bundespräsidenten gemocht, weil
er die Herzen der Menschen erobert hat, über den
Tellerrand blickte und weil er uns wertvolle Rat-
schläge gegeben hat«, sagte die Kanzlerin am Tag von
Köhlers Rücktritt. Er fand, dass seine Ratschläge oft
ungehört verhallten. Nun gibt ihr niemand mehr
welche.
Zehn Milliarden Euro muss die Regierung bis
2016 in jedem Jahr einsparen, insgesamt 60 Milliar-
den Euro, und damit so viel wie keine Bundesregie-
rung zuvor. Die einen würden am liebsten die Pend-
lerpauschale kürzen, die anderen Subventionen für
Steinkohle, energieintensive Betriebe oder Bauern.
Erwogen wird eine Anhebung der reduzierten Mehr-
wertsteuersätze auf Schnittblumen, Esel oder Zei-
tungen ebenso wie eine Erhöhung der Benzinsteuer,
die Einführung einer Pkw-Maut und die Kürzung
von Hartz IV.
Es ist vor allem eine Abwehrschlacht, die da ge-
schlagen wird. Jeder Minister verteidigt sein Ressort,
jede Lobby ihre Pfründe, jeder Politiker seine Wahl-
kreisinteressen. Steuererhöhungen seien mit der FDP
nicht zu machen, tönen die Liberalen und versuchen
damit davon abzulenken, dass das Haupt- und einzige
Thema der FDP, nämlich Steuersenkungen, so de-
finitiv vom Tisch ist, wie man sich das vor der Land-
tagswahl in Nordrhein-Westfalen und dem 750-
Milliarden-Paket für die Griechen nicht hätte träu-
men lassen.
Das Wichtigste aus Sicht der Regierung: Am Ende
soll nicht eine geistlose Sparliste stehen, sondern ein
politischer Anspruch. Nach einer Überschrift werde
nicht gesucht, heißt es im Kanzleramt, aber so etwas
wie einen Arbeitstitel gibt es durchaus: Sparen schafft
Zukunft.
»Man kann auch im Sparen gestalten«, sagt Peter
Altmaier, der Parlamentarische Geschäftsführer der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion. »Nur Sparen, das
wäre gewissermaßen negatives Gestalten. Wir wollen
einen Schritt darüber hinaus, genau an die Stelle, wo
wir Spielräume für heute erhalten und für die Zu-
kunft schaffen.«
Die Kanzlerin denke vom Ende her, heißt es. Bis
zum Montag war dieses Ende die Kabinettsklausur
und der Haushalt. Jetzt geht das alles schon wieder
in der nächsten Krise auf und womöglich unter. »Das
ist ja alles irre«, seufzt ein Mitarbeiter im Kanzleramt,
»in der Lage, in der wir sind, müssen wir jetzt auch
noch einen Bundespräsidenten suchen«.
Was also, wenn das Ende nicht mehr in Sicht ist?
Die Methode Merkel, so scheint es, ist an ihre Gren-
zen gekommen.
»Der Zeitpunkt könnte nicht schlimmer sein«,
sagt ein christdemokratischer Minister über Köhlers
Rücktritt. Die konsternierten Mienen der Kanzlerin
und des Vizekanzlers, beide überrumpelt vom Schritt
des Bundespräsidenten, zeigten am Montag im Wort-
sinn das Gesicht einer hoffnungslos überforderten
Regierung.
Wenig ankündigen und hoffen, dass es hinterher
besser kommt, damit ist Merkel in der Zeit der
Großen Koalition gut gefahren. Auch die bewusste
Nichtinszenierung der schwarz-gelben Kabinetts-
klausur folgte noch diesem Muster. Keine großen
Ankündigungen machen und darauf hoffen, dass
sich die Klausur im Nachhinein als der Moment
erweist, in dem es mit der Koalition bergauf ging.
Das geht jetzt nicht mehr. Jetzt wissen alle, dass es
nach Finanzkrise, Griechenlandrettung und FDP-
Bekehrung einen großen Wurf geben muss, dass
eben doch mal jemand die Reset-Taste drücken
muss.
Das geht jetzt nicht mehr.
Krise, die Regierung vor ihrer schwers-
ten Woche, und jetzt auch noch das:
Das Staatsoberhaupt gibt sein Amt zu-
rück, als handelte es sich um einen be-
liebig kündbaren Job – und liefert den letzten Be-
weis für das Ausmaß des Chaos an der Spitze der
Republik. Es ist eine historische Situation. Und ein
neuer Tiefpunkt für Angela Merkel.
Am Montagnachmittag kurz nach halb fünf steht
die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland im
Kanzleramt vor einer kanzleramtsblauen Stellwand,
die Fassade stimmt, und dennoch stimmt in diesem
Augenblick fast gar nichts mehr. Merkel stockt beim
Reden, verhaspelt sich, baut seltsame Sätze. Vier-
einhalb Stunden zuvor hat Horst Köhler sie angeru-
fen, um ihr seinen Rücktritt mitzuteilen. »Ich bedaue-
re diesen Rücktritt aufs Allerhärteste«, sagt sie. Gleich
dreimal dankt sie ihm für die vergangenen fünf Jah-
re, dabei regierte Köhler doch ein Jahr mehr.
Die Worte, die Gesichtszüge, die Politik, alles ver-
rutscht.
Wie die Hasen laufen sie Merkel in diesen Tagen
davon. Ihr Parteivize Roland Koch hat seinen Rück-
tritt erklärt. Einen Ersatz gibt es nicht. Ihr Regierungs-
sprecher ist auf dem Absprung. Einen Ersatz gibt es
nicht. Und nun flieht auch noch der Bundespräsident.
An Köhlers Kür 2004 ist die damalige Oppositions-
führerin Merkel gewachsen. Die Personalie galt als
ihr Coup. Ihr Meisterstück. Nun ist der Abgang Köh-
lers ihr Schaden. Ihr Problem. Will denn gar keiner
mehr Politik machen?
Für das kommende Wochenende plant die Re-
gierung ihren Neustart, den zweiten bereits. Doch
womöglich erreicht erst Köhler mit seinem Rücktritt,
was er im Amt nie geschafft hat: Er zwingt die Kanz-
lerin zu einer echten Zäsur.
Beton statt Barockschloss, Selters statt Sekt: Wenn
sich die schwarz-gelbe Koalition am Sonntag und
Montag zur Klausur trifft, dann findet die Tagung
nicht, wie ursprünglich geplant, auf Schloss Mese-
berg statt. Man trifft sich im Kabinettssaal des Kanz-
leramts. Arbeitssitzung statt Klassenfahrt. Bloß
keine Überhöhung durch Bilder wie einst bei Kie-
singer und Brandt, als das Kabinett im Garten von
Palais Schaumburg tagte und die Minister von Die-
nern in Livree verköstigt wurden. Bitte keine Fern-
sehaufnahmen wie damals bei Gerhard Schröder, als
man sich unter den Bäumen in Schloss Neuharden-
berg traf.
Diese Regierung will keine Erwartungen mehr
wecken, die dann wieder nicht eingehalten werden;
nichts vorspielen, was ohnehin keiner mehr glauben
würde. Nur formal geht es bei der zweitägigen Klau-
sur um den Bundeshaushalt 2011. Tatsächlich geht
es um die Zukunft der Koalition und – wichtiger
noch – um die Zukunft des Landes. Ein Weiter-so
kann es nicht geben. Aber was dann?
Eine Idee wird im Kanzleramt schon zurück-
gewiesen: »Wir drücken jetzt die Reset-Taste, und
dann wird alles anders, so wird das nicht laufen.« Es
geht jetzt um ganz viel, das wissen alle, während sie
nach außen ganz tief stapeln. Findet die schwarz-
gelbe Koalition endlich eine Antwort darauf, was der
Die Letzte
macht das
Licht aus
Wie viele Rücktritte kann Angela Merkel noch verkraften?
Und wie stellt sich die Kanzlerin jetzt den Neustart vor?
VON MARC BROST UND TINA HILDEBRANDT
dere Rolle spielen zu können. Klar ist, dass die Koali-
tion einen gemeinsamen Kandidaten für das Bundes-
präsidentenamt benennen wird. »Es ist das erste Mal
seit Regierungsantritt, dass die Kanzlerin uns wirklich
braucht«, heißt es in der FDP-Führung, »schließlich
haben wir bei der Kandidatensuche ein deutliches
Wort mitzureden.«
Gerade mal 30 Tage lässt das Grundgesetz Zeit bis
zur Neuwahl. Spätestens am 30. Juni muss der neue
Präsident gewählt werden – und zwar von der Bundes-
versammlung. Das war in der Vergangenheit meist
eine ziemlich wackelige Angelegenheit, denn die Ver-
sammlung setzt sich nur zur Hälfte aus (parteipoli-
tisch klar festgelegten) Abgeordneten des Bundestages
zusammen. Der andere Teil sind Delegierte und Pro-
minente aus den Bundesländern – und die zeigen
schon mal ein eher erratisches Wahlverhalten. So war
beispielsweise das Ergebnis für Horst Köhler vor
seiner zweiten Amtszeit äußerst knapp: Mit 613
Befürwortern erhielt er nur genau die nötige absolu-
te Mehrheit.
Doch diesmal könnten Union und FDP wo-
möglich ein bisschen entspannter in die Wahl gehen.
Sie verfügen über eine komfortable Mehrheit. Das
müsste für den eigenen Kandidaten reichen.
Jürgen Rüttgers würde sich das Amt wohl zu-
trauen. Doch was für ein Signal wäre das, in einer
historischen Krise einen frischgebackenen Wahlver-
Mitarbeit: ELISABETH NIEJAHR, PETRA PINZLER,
DAGMAR ROSENFELD
799055722.037.png
POLITIK
5
2. Juni 2010 DIE ZEIT N o 23
Kampf im Zwielicht
Die blutige Militäraktion Israels gegen ein Schiff mit Protestaktivisten löst eine weltpolitische Krise aus.
Wie konnte der Zusammenstoß so außer Kontrolle geraten? VON ANDREA BÖHM, GISELA DACHS UND MICHAEL THUMANN
A shdod am Montag: Es ist schon fast
Ashdod/Istanbul
Waffen schmuggeln? Uyar schüttelt den Kopf.
»Wir prüfen unsere Leute vor jeder Hilfsfahrt, sa-
gen ihnen: Dies ist eine friedliche Mission, keine
Waffen, keine Vorbereitung auf Angriffe.« Die
IHH sei eine Hilfsorganisation, arbeite seit Mitte
der neunziger Jahre in insgesamt über hundert
Ländern, die mit islamischen Fundamentalisten
nichts zu tun hätten. Die IHH-Helfer bauen Hüt-
ten und Schulen in Konfliktgebieten, bohren
Brunnen, betreiben mobile Kliniken, verteilen
Wasser, Lebensmittel, Decken und Zelte in Flücht-
lingslagern. Die humanitäre Organisation bekam
vor drei Jahren den Ehrenpreis des türkischen
Parlaments.
In Gaza arbeitet die IHH seit dem Beginn der
Blockade durch Israel im Jahr 2007. Dieses Jahr ist
schon ein Hilfskonvoi über Ägypten nach Gaza ge-
kommen. Kontakte zu Hamas streitet Uyar nicht
ab. Die IHH organisiert auch in Gaza Hilfspro-
jekte. Da müsse man natürlich mit Hamas spre-
chen, »schließlich regieren die da«. Vergangenes
Jahr sei eine Hamas-Delegation hier in Fatih gewe-
»Hamas«, »Terror«, »unerhörte Provokation«,
»Recht auf Selbstverteidigung«.
Man muss schon suchen, um in diesen Zeiten in
Israel Stimmen des Widerspruchs gegen die herr-
schende Meinung zu finden, die sich da hinter einer
Mauer aus Trotz, Angst und absoluter Ablehnung
gegen jede Kritik von außen verbunkert hat. Es gab
im Vorfeld des Blutbads auf der Mavi Marmara
Debatten in der Knesset über das angemessene Vor-
gehen gegen den Hilfskonvoi, aber auch über Sinn
und Unsinn der Blockade des Gaza-Streifens. Die
Auseinandersetzung mit der Hamas sei schließlich
auch eine »intellektuelle Schlacht« um Israel, sagt
Einat Wilf, Abgeordnete der Arbeitspartei und somit
Mitglied einer Regierungsfraktion. Sie hätte die
Flotte einfach durchgelassen, »weil sie in Wirklichkeit
Akteur einer internationalen Kampagne ist, um Isra-
el zu isolieren«. Und weil dies kein militärischer Krieg
sei, sei er auch nicht mit militärischen Mitteln zu
gewinnen. »Es wäre besser gewesen, zu fordern, dass
ein Vertreter des Roten Kreuzes mit auf das Schiff
kommt, um (den von Hamas entführten Soldaten)
Dramatischer noch ist die zunehmende Ent-
fremdung vom wichtigsten Verbündeten USA. In
Washington wächst das Unbehagen an der unver-
söhnlichen israelischen Politik in der Region. Dass
Vizepräsiden Joe Biden bei seinem jüngsten Israel-
besuch im März durch die Bekanntgabe neuer
Siedlungspläne in Ostjerusalem regelrecht brüs-
kiert wurde, wird man im Weißen Haus so schnell
nicht vergessen.
Israels Angriff auf die Mavi Marmara dürfte auch
den Ruf nach rechtlichen Konsequenzen laut werden
lassen. Völkerrechtlich ist das israelische Vorgehen
– gelinde gesagt – extrem heikel. In Friedenszeiten
ist es grundsätzlich verboten, Schiffe auf hoher See
aufzubringen. Wichtigste Ausnahme: der Kampf
gegen Piraten. Im Krieg allerdings, den Völkerrecht-
ler heute allgemein als »bewaffneten Konflikt« be-
zeichnen, bestehe mindestens theoretisch die Mög-
lichkeit, Schiffe unter fremder Flagge zu stoppen
oder sogar zu versenken, sagt der Kieler Völkerrecht-
ler Alexander Proelß: wenn sie Waffen an die geg-
nerische Konfliktpartei liefern. Oder wenn sie eine
»zulässige Blockade« zu durchbrechen versuchen.
Darauf berufen sich die israelischen Armeesprecher.
Hier aber liegt exakt das Problem: Ist die Blockade
des Gaza-Streifens »zulässig«? Oder ist die Abriege-
lung zu Land und See ebenjene völkerrechtswidrige
»Kollektivstrafe«, von der Amnesty International
spricht? Auch das ist umstritten. Proelß hält eine
Blockade von Hilfslieferungen an die Zivilbevölke-
rung für sehr problematisch. Selbst wenn es aber
dunkel, als die Mavi Marmara von
der israelischen Marine in den Hafen
von Ashdod eskortiert wird. Als Flagg-
schiff eines internationalen Hilfskon-
vois für Gaza hatte sie diese Fahrt begonnen, seit
den frühen Morgenstunden des Montags ist sie das
neue Schlachtfeld des Nahostkonflikts. Mindestens
neun, womöglich 19 Menschen sind tot, ihre Na-
men kennt noch keiner, nur so viel weiß die Welt:
Alle sind Aktivisten eines Schiffskonvois, der die
israelische Blockade durchbrechen wollte, um Hilfs-
güter nach Gaza zu liefern. Alle sind bei dem Ver-
such israelischer Truppen gestorben, die Schiffe in
den frühen Morgenstunden zu entern.
Auf dem Jonah-Hügel über dem Hafen haben
sich ausländische und einheimische Journalisten und
aufgebrachte Israelis versammelt. Im Gazakrieg
schlugen Qassam-Raketen von Hamas in Ashdod
ein – und Hamas, davon sind die Anwesenden über-
zeugt, steckt hinter dem Hilfskonvoi. Einer hält ein
Plakat hoch mit der Aufschrift: »Well done, IDF
(Israeli Defence Forces).« – »Gut gemacht, Soldaten.«
Ein anderer schüttelt den Kopf über die auslän-
dischen Journalisten, die wieder einmal einer In-
szenierung von Hamas auf den Leim gegangen seien.
»Die Welt versteht nur noch nicht, mit wem sie es
da zu tun hat.«
Die Welt rückt unterdessen ein Stück weiter ab
von diesem Land. In Brüssel treten die Ständigen
Vertreter der 27 EU-Regierungen zu einer Son-
dersitzung zusammen, die EU-Außenbeauftragte
Catherine Ashton verurteilt den Militäreinsatz ge-
gen die »Gaza-Flotilla« und fordert ein Ende der
Blockade, UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigt
sich erschüttert.
Istanbul am Montag: Eine zugeparkte Neben-
straße in Fatih, dem Viertel der Gläubigen und
Züchtigen. Viele Bäume vor alten Häusern, es
riecht nach Frühlingsblüte und den Köftegrills aus
der Seitenstraße. Hier, unweit der großen Fatih-
Moschee, in einem unscheinbaren gelben zweistö-
ckigen Haus, hat die Stiftung für Menschenrechte
und Freiheit (IHH) ihren Sitz. In einer Glasvitrine
liegen Auszeichnungen für ihre Hilfsprojekte in
Asien und Afrika, am Eingang kann man Spenden
entrichten. Über den Bildschirm eines großen
Fernsehers flimmern unaufhörlich in einer Endlos-
schleife Bilder vom Sturm der israelischen Marine
auf das Hauptschiff.
Rechtlich ist schon die Blockade
fragwürdig, erst recht dieser Einsatz
Von amerikanischer Seite folgte ein ungewöhn-
licher Warnschuss, als – ebenfalls im März – der
führende US-General David Petraeus Israels Kon-
flikte mit seinen Nachbarn als Belastung für die
US-Interessen in der Region bezeichnete.
Dass Israels Premierminister Benjamin Netanja-
hu seinen für Dienstag angesetzten Besuch in Wa-
shington abgesagt hat, dürfte die Beziehungen
nicht erwärmen.
TÜRKEI
»Türk ische Republik
Nordzypern«
SYRI
Nikosia
Republik
Zypern
Israelisches Militär
bringt den internationalen
Schiskonvoi auf
Passagiere hatten Eisenstangen und
Steinschleudern mit an Bord gebracht
Haifa
In der Halle drängen sich Menschen, deren Ver-
wandte als Helfer an Bord jener drei Schiffe ge-
gangen waren, die die IHH für den Konvoi nach
Gaza ausgerüstet hatte. Wer ist tot, wer ist verletzt?
Wer sitzt im Gefängnis, wer wird ausgeflogen, wer
abgeschoben? Keiner weiß Genaues von den auf-
gebrachten Schiffen. Verlässliche Informationen
sind nicht vorhanden, dafür umso mehr Wut,
Angst und Gerüchte.
Auf sechs Schiffen mit 10 000 Tonnen Hilfs-
gütern an Bord wollten mehrere Hundert Akti-
visten die israelische Blockade des Gaza-Streifens
durchbrechen. Unter ihnen auch der schwe-
dische Schriftsteller Henning Mankell, der Füh-
rer der Islamischen Bewegung in Israel, Raeb Sa-
lah, die irische Friedensnobelpreisträgerin Mai-
read Corrigan Maguire, die beiden Bundestags-
abgeordneten der Linkspartei Inge Höger und
Annette Groth. Zu den Mitinitiatoren zählen
neben der türkischen IHH die Bewegung Free
Gaza, die Organisation Internationale Ärzte zur
Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), Pax Chris-
ti sowie mehrere palästinensische Organisationen
in Europa.
Es war nicht die erste Aktion dieser Art, seit
Israel 2007 nach dem Wahlsieg von Hamas eine
Blockade gegen den Gaza-Streifen verhängt hat-
te – eine Blockade, die Israel mit der Bekämpfung
von Waffenschmuggel und Attentaten begründet,
die Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty
International aber als »Kollektivstrafe für die Be-
völkerung« und damit als grobe Verletzung des
Völkerrechts werten.
Vereinzelt durften Schiffe in der Vergangenheit
an die palästinensische Küste anlegen. Aber noch nie
war ein so großer Konvoi in See gestochen, noch nie
war die damit verbundene mediale Provokation für
Israel so groß gewesen. Und noch nie war es angesichts
der wachsenden internationalen Kritik für Israel so
wichtig, diese Runde im Kampf um die Bilder zu
gewinnen. Mit friedlichen Mitteln, mit geschickter
Diplomatie, mit Kompromissen, mit symbolischen
Gesten. Stattdessen kam es zu einem Blutbad. Wie
konnte die Situation im Mittelmeer so dramatisch
eskalieren, mit so weitreichenden Folgen?
Weil die Gewalt von den Aktivisten ausgegan-
gen sei, lautet die simple Erklärung der israelischen
Regierung. Weil hinter der IHH Hamas stecke, die
einen neuen Schmuggelweg für Waffenlieferungen
suche.
»Absurd«, sagt Murat Uyar, Hilfskoordinator
bei der IHH in Istanbul. Bevor die drei Schiffe
nach Gaza losfuhren, habe der Istanbuler Zoll die
Ladung komplett durchgeprüft. »Von oben bis
unten, mit Spürhunden und Röntgengeräten«,
sagt Uyar. Dann sei die Ladung versiegelt worden,
damit sie ohne Manipulation Gaza erreichen kön-
ne. Doch kann nicht auch das Begleitpersonal
12-Meilen-Zone
Mittelmeer
Aschdod
Gaza-Streifen
Israelische Marinesoldaten beim Sturm auf das Schiff »Mavi Marmara« (großes Bild), ein Hamas-Polizist hält Ausschau aufs Meer, Protest gegen Israel in Istanbul, wartende Kinder in Gaza,
ein verletzter Protestaktivist wird an Land gebracht, Palästinenser fahren mit ihren Booten dem später gestoppten Schiffskonvoi entgegen (kleine Bilder von links unten nach rechts oben)
sen, die sei anschließend nach Ankara zu Gesprä-
chen mit der Regierung weitergereist. Keine Kon-
spiration. Alles durchsichtig
Es wird dauern, bis das Geschehen auf den
Schiffen hinreichend untersucht worden ist. Es ist
gut möglich, dass die Katastrophe auf der Mavi
Marmara eher Folge einer fatalen Kette von Fehl-
einschätzungen war als geplante Eskalation. Die
Organisatoren des Hilfskonvois hatten trotz israe-
lischer Ankündigungen offenbar nicht mit einer
solchen Militäraktion gerechnet und ihre Aktivis-
ten auch nicht ausreichend vorbereitet – auch
nicht darauf, wie man Gewalttäter in den eigenen
Reihen zu Räson bringt. Denn einige Passagiere
auf der Mavi Marmara hatten Eisenstangen und
Steinschleudern an Bord gebracht und Widerstand
geleistet, als in den frühen Morgenstunden israe-
lische Kommandos das Schiff enterten.
Und womöglich waren die Kommandos ihrer-
seits nicht darauf vorbereitet, eine solche Eska la-
tion unter Kontrolle zu bringen, ohne ein Blutbad
anzurichten. Bloß ließen die ersten Äußerungen
von israelischen Militärs, Ministern und Regie-
rungssprechern nicht darauf schließen, dass man
dies für eine menschliche wie politische Katastro-
phe hält. »Befehl ausgeführt. Missgeschick pas-
siert«, meldete Admiral Eliezer Marom, Ober-
befehlshaber der Marine, nach dem Einsatz. Be-
dauern über die Opfer wurde von Ministern und
Regierungssprechern zum Ausdruck gebracht.
Doch dann folgten reflexartig die Schlagworte
Gilat Shalit zu besuchen. So hätten wir die Oberhand
behalten.« Solche Ideen würden ihre Kollegen durch-
aus interessant finden. Aber »es gibt eine Tendenz,
sich dann doch fürs Militärische zu entscheiden.«
Die Folgen dieser »Tendenz« sind in ihrer Trag-
weite noch gar nicht absehbar. Zunächst einmal ist
das türkisch-israelische Verhältnis am absoluten
Tiefpunkt angelangt.
Und wie steht es seit diesem Montag um das
Verhältnis zwischen Berlin und Tel Aviv?
Angela Merkel gilt seit ihrer Rede vor der Knes-
set im Jahr 2008 als beste Freundin Israels in Eu-
ropa. Damals erklärte sie die Sicherheit Israels zur
»Staatsräson« der Bundesrepublik. Unterdessen
scheinen ihre Zweifel zu wachsen, ob Israel seine
Sicherheit nicht auch selbst unterminiert. Am
Montagnachmittag stellt die Bundeskanzlerin die
Verhältnismäßigkeit der israelischen Aktion offen
infrage und fordert schließlich sogar, »internatio-
nale Beobachter« an der Untersuchung des Vorfalls
zu beteiligen. Das ist ein Einschnitt in ihrem Ver-
hältnis zu Israel. Denn Merkels Forderung enthält
ein implizites Misstrauensvotum gegen die israe-
lische Regierung.
Die Kanzlerin äußert sich zunehmend unge-
duldig über die derzeitige Regierung Israels und
lässt Zweifel an deren Friedenswilligkeit erkennen.
Zuletzt hatte sie erstmals den Siedlungsbau in Ost-
jerusalem in scharfen Worten kritisiert – in An-
wesenheit des libanesischen Ministerpräsidenten
Hariri auch dies eine Spitze gegen die israelischen
Freunde.
Merkel ist von der Sorge getrieben, dass der
Konflikt die Türkei – und damit auch viele Türken
hierzulande – weiter gegen Israel aufbringen könn-
te. Darum telefonierte sie am Montagmorgen mit
Netanjahu und Erdoğan, zwei Männern, die sie
mühevoll davon überzeugen muss, nichts zu tun,
was sie später bereuen werden.
zulässig gewesen sein sollte, die Schiffe der Gaza-
Flotille im Mittelmeer anzuhalten – die israelischen
Einheiten hätten in jedem Moment ihres Einsatzes
das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachten müssen.
Dass dies geschehen ist, bezweifelt Proelß: »Wenn
bei einer solchen Operation 16 oder mehr Zivilisten
ums Leben kommen, legt dies die Unverhältnis-
mäßigkeit und damit Völkerrechtswidrigkeit zu-
mindest nahe.«
In den frühen Morgenstunden des Dienstags
waren die Namen der Toten immer noch nicht
bekannt. Die deutschen Teilnehmer des Schiffs-
konvois sollen, so hieß es, unverletzt geblieben
sein. Das Gerücht, Raeb Salah, der Führer der Isla-
mischen Bewegung in Israel, sei schwer verwundet
worden, erwies sich als Falschmeldung. Die Polizei
war bereits in Alarmbereitschaft versetzt worden,
in Erwartung von Gewaltausbrüchen in den ara-
bischen Ortschaften.
In den Büros der IHH in Istanbul drängelten
sich noch Montagnacht weiterhin zunehmend ver-
zweifelte Angehörige. Auf dem Istanbuler Taksim-
Platz skandierten Zehntausende Demonstranten
»Nieder mit Israel!« und beschworen eine »interna-
tionale Intifada«. Die Regierung in Ankara forderte
eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates.
Aus einer symbolischen Konfrontation war ein
Blutbad geworden. Aus dem Blutbad eine welt-
politische Krise.
Erdoğan lässt keine Gelegenheit aus,
Israel zu kritisieren
Dieses ist schon seit dem Gaza-Krieg 2009 arg
strapaziert. Bis dahin pflegten Ankara und Tel Aviv
über Jahre eine enge strategische Zusammenarbeit.
Israelische Piloten trainierten über Anatolien, tür-
kische Panzer wurden mit israelischer Technik auf-
gerüstet, die Armeen übten zusammen. Seit Gaza:
Funkstille. Beim World Economic Forum in Da-
vos gerieten Premier Erdoğan und Präsident Peres
aneinander, Erdoğan nutzte den Moment zu einem
dramatisch-wütenden Abgang vom Podium. Seit-
her ließ der Premier keine Gelegenheit aus, die is-
raelische Palästinapolitik mit markigen Worten
anzuprangern. Israel revanchierte sich. Die regel-
mäßigen Besuche des israelischen Verteidigungs-
ministers Barak in Ankara können die Gewichts-
verschiebung nicht mehr überdecken: In den ver-
gangenen acht Jahren hat sich die Türkei im Nahen
Osten, in Afrika und Asien bestens vernetzt. Israel
isoliert sich zunehmend.
Mitarbeit: JÖRG LAU UND HEINRICH WEFING
799055722.038.png 799055722.039.png 799055722.040.png 799055722.041.png 799055722.042.png 799055722.043.png 799055722.044.png 799055722.045.png 799055722.046.png 799055722.047.png 799055722.048.png 799055722.049.png 799055722.051.png 799055722.052.png 799055722.053.png 799055722.054.png 799055722.055.png 799055722.056.png 799055722.057.png 799055722.058.png
 
Zgłoś jeśli naruszono regulamin