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Polyamorie

 

Polyamoristen haben zwei oder mehr Partner. Bis zu 30 Leute kann ein Beziehungsgeflecht umfassen. Der Lebensstil der Vielliebe ist zu einer weltweiten Bewegung geworden.

Von FOCUS-Online-Autor Tobias Kurfer

 

Liebe und Sex ohne Grenzen

Wenn Karin (49) mit Holger (31) schläft, dann kann ihr Mann Rainer (55) dabei zuhören. Der Berliner Sozialpädagoge liest in der Küche ein Buch oder beobachtet die Fische im Aquarium. „Früher hat mir das schon einen Stich versetzt, wenn meine Frau mit einem anderen geschlafen hat“, sagt er. „Aber wer so lebt wie wir, der darf nicht allzu eifersüchtig sein.“


Schätzungsweise 600 bis 6000 Menschen leben in Deutschland die offene Vielweiber- und Vielmännerei, genannt „Polyamorie“. Weltweit sind es ein paar Zehntausend. Belastbare Zahlen gibt es nicht. Der Name ist eine Wortneuschöpfung aus dem griechischen „poly“ (viel) und dem lateinischen „amor“ (Liebe). Manche Anhänger der Lebensweise teilen sich wie die Karin Schwarz, Rainer Tolle und Holger Dörling eine Wohnung. Andere spannen ihre erotisch-amourösen Netze über den gesamten Globus. 30 Personen und mehr gehören zu manchen Beziehungsgeflechten. Die Liebesbündnisse schließen nicht selten zwei oder drei Generationen ein. Grundregel des Lebensstils: Jeder Partner weiß von allen anderen. Heimlichkeit ist tabu. Und Polyamorie ist nicht Polygamie, also nicht „Vielehe“. Die ist in Deutschland gesetzlich verboten.

 

Ein Vielfaches der Liebe gesucht

Im Gegensatz zu „Swingern“, Paaren also, die sich mit Wildfremden in Clubs zum Partnertausch treffen, geht es Polyamoristen nicht um Abwechslung beim Sex allein. Sie suchen die Liebe – oder eben ihr Vielfaches. Vereinzelt sind ganze Familien Teil der Love-Communitys. Eine Bonner Freundin Rainers zum Beispiel ist verheiratet und hat zwei Kinder. „Die Kleinen sagen schon mal Papa zu mir“, sagt Rainer.


In den USA ist „Polylove“ zu einer richtigen Bewegung geworden. An deren Spitze steht „Loving More“, eine Gesellschaft zur Förderung der Polyamorie. Rund 20 000 Anhänger verzeichnet die Organisation, als deren „Seele“ Robyn Trask gilt, eine 43-jährige Tantralehrerin aus Boulder im Bundesstaat Colorado. Trask gibt das Magazin „Lovin More“ heraus, veranstaltet eine jährliche Poly-Konferenz und wirbt für die gesellschaftliche Akzeptanz der oftmals bisexuellen Mehrfachbeziehungen. Das Ziel ihrer Lobbyarbeit ist die rechtliche Gleichstellung der Gruppenliaison mit der Ehe. Polyamoristen sollen wie Verheiratete im Krankenhaus Auskunft über den Gesundheitszustand ihrer Partner bekommen, sie sollen in Erbrechtsfragen gleichgestellt werden und das gemeinsame Sorgerecht für Kinder erhalten. Forderungen, die konservative Sittenwächter in den USA regelmäßig auf die Palme bringen.


Auch in Europa formt sich inzwischen so etwas wie eine politische Polylove-Bewegung. In den Niederlanden etwa haben kürzlich 40 000 Menschen eine Petition für die gesetzliche Anerkennung der Beziehungsform unterzeichnet. Der Antrag liegt dem Parlament in Den Haag vor. In Deutschland treten die Vielliebenden politisch bislang noch zurückhaltend auf. Felix Ihlefeldt, Autor des Buches „Wenn man mehr als einen liebt“ ist einer ihrer Vorreiter. Er fordert gegenüber FOCUS Online, die seit 2001 für Homosexuelle eingerichtete „eingetragene Lebenspartnerschaft“ juristisch zu öffnen. Die Gleichstellung der polyamoren Beziehungen sei dringend nötig, sagt Ihlefeldt. Er glaubt: Polyamorie kann heilsam sein. „Die wenigsten monogamen Paare sind auf Dauer glücklich.“

 

Eifersucht gilt als hässlicher Makel

Rainer Tolle jedenfalls war in keiner seiner Zweierbeziehungen glücklich. Immer wieder verliebte er sich in mehrere Frauen zugleich. Doch oft verkniff er sich, mit seinen Partnerinnen darüber zu reden – aus Angst, sie vor den Kopf zu stoßen. Dann, Anfang der 80er-Jahre, scheiterte seine erste Ehe. Der junge Mann war einer Kreuzberger Kommune beigetreten, die die „freie Liebe“ praktizierte. Wöchentlich tauschte Rainer nun die Partner. Ein Ringelreihen mit beinahe mechanischem Ablauf. Man traf sich, man sprach miteinander, drei, vier Stunden, dann hatte man Sex. Irgendwann war Rainer die starre Ideologie der Gruppe leid: Zwei die sich häufiger trafen, weil sie sich mochten, galten als Spalter und Spießer. Heute führt Rainer ungezwungenere Beziehungen. Acht an der Zahl. Seine Frau Karin hatte zahlreiche lesbische Affären.


Polyamoristen müssen vor allem eines sein: gut im Organisieren. Um ihre Liebschaften unter einen Hut zu bringen, führen viele sogenannte Schlafpläne und entwickeln ausgeklügelte Rotationssysteme. Auf Robin Trasks Loving-More-Konferenzen kann man lernen, wie man einen Terminkalender möglichst effektiv einsetzt. Von „Stress“ will Karin bei alldem trotzdem nichts wissen: „Wer viele Kinder hat, hat auch Stress“, sagt sie.


Aber kann das funktionieren? Was ist zum Beispiel mit der Eifersucht? Sie ist – trotz anders lautender Bekundungen einzelner Anhänger – tatsächlich das größte Problem vieler Vielliebenden. Zumal sie unter den „Polys“ als hässlicher Makel gilt. „Eifersucht ist Besitzdenken und bedeutet Unsicherheit“, lautet sinngemäß ein Mantra der Szene. Polyamoristen, die von Eifersucht geplagt werden, bekämpfen sie deshalb auch. Ihre Methode nennt sich „Compersion“. Ein Denken, nach dem Leitsatz: „Freu dich, dass noch weitere Menschen deinen Partner lieben und mit ihm schlafen. Es ist gut für ihn.“ Immer wieder unterdrückt auch Rainer die Eifersucht. Er sagt, er sei heute gerührt, wenn er Karin beim Sex mit Zweitmann Holger höre.


Was sich durch Compersion nicht beheben lässt, wird ausdiskutiert. Ganz nach Art der 68er, in endlosen selbsttherapeutischen Debatten. Dabei herrscht manchmal eine Offenheit, die Beziehungsnormalos als schonungslos empfinden müssen. Karin sagt: „Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Es gibt keinen Grund dazu.“

 

Strikte Regeln strukturieren das Beziehungsleben

Letzte Sicherheit geben den Polys strikte Regeln, wie: kein Sex mit dem Zweit- oder Drittpartner im gemeinsamen Ehebett. Oder: kein Übernachten in fremden Schlafzimmern. In manchen Beziehungszirkeln besitzen die Mitglieder eine Art Vetorecht für die Aufnahme von Neulingen. Auch Karin und Rainer haben nach solchen Regeln gelebt. Mit den Jahren haben sie sich von immer mehr dieser Vorschriften verabschiedet.


Die Vielfachliebe ist keine Erfindung der Hippie-Generation. Künstler und Intellektuelle pflegten schon lange vor den Blumenkindern ähnliche Lebensweisen. Bertold Brecht, Virginia Woolf, Rainer Maria Rilke und Bertrand Russel etwa lebten offene Liebesbeziehungen, das Schriftstellerpärchen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir gestattete sich „Zufallslieben“. Auch heute gibt es Polyamoristen unter den Promis. Der US-Investor Warren Buffet, zurzeit der zweitreichste Mann der Welt, führte viele Jahre eine Dreierbeziehung mit seiner Ehefrau Susan und seiner Freundin Astrid Menks. Der deutsche TV-Regisseur Dieter Wedel zeigte sich in der Vergangenheit oft gemeinsam mit zwei Lebensgefährtinnen.


Ob sie glücklicher sind? Eines jedenfalls scheint sicher: Polyamorie verhindert nicht automatisch den Wunsch, heimliche Liebesbeziehungen zu unterhalten. Robyn Trask etwa fand heraus, dass ihr Ehemann – einer ihrer drei Gespielen – mehrere Monate lang eine Fernbeziehung hatte. Als die Sache aufflog, gab es ein Drama, dass sich in nichts von dem unterschied, was monogam lebende Menschen durchmachen.


Karin, Rainer und Holger wollen zusammen alt werden. Zu dritt, vielleicht zu viert oder zu mehreren. Karin sagt: „Unsere Beziehung ist auf Unendlichkeit angelegt.“

 

 

Quelle: FOCUS-ONLINE v. 08.10.2009,

Url: http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/sexualitaet/erotik/tid-15765/polyamorie-liebe-und-sex-ohne-grenzen_aid_442440.html.

 

 

FRAGEN ZUR WAHL:

1.       Wie beurteilen Sie den im Text beschriebenen „neuen Lebensstil“? Glauben Sie, dass Vielliebe auch in Polen Anhänger finden kann? Warum (nicht)?

2.       Zeichnen sich Polyamoristen Ihrer Meinung nach durch bestimmte Charaktereigenschaften aus? Welche sind das?

3.       Welchen Einfluss könnte die Polyamorie auf die Entwicklung der Gesellschaft haben? Begründen Sie bitte Ihre Meinung!

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