Martin Millar - Kalix - Die Werwolfin von London.pdf

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London: Werwölfin Kalix MacRinnalch streift allein durch die Stadt. Sie hat
ihren Vater, den Anführer des Werwolfclans, attackiert - eine unverzeihliche
Tat. Nun wird sie nicht nur von mörderischen Werwolfjägern verfolgt, sondern
auch von ihren rachsüchtigen Verwandten. Kalix findet jedoch Unterschlupf bei
Daniel und Moonglow. Diese werden dadurch in einen Konflikt hineingezogen,
der vom schottischen Hochland bis nach London reicht - und noch ein paar
Dimensionen weiter. Denn die Werwölfe rüsten sich zum Krieg um die Führung
des Clans, und Kalix steht im Zentrum des Geschehens ...
Martin Miliar wurde in Glasgow geboren und lebt seit vielen Jahren in London.
Auf Deutsch erschien u. a. »Die Elfen von New York«. Martin Miliar wurde mit
dem World Fantasy Award ausgezeichnet. Er schreibt gerade an der
Fortsetzung zu »Kalix«.
MARTIN MILLAR
Kalix
WERWÖLFIN VON LONDON
Roman
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Kalix hatte sich verlaufen. Sie war müde, nervös, unkonzentriert und hatte sich
verlaufen. Und jetzt regnete es auch noch. Sie war eine kalte Straße nach der
anderen abgelaufen und hatte nach der leeren Lagerhalle gesucht, in der sie im
Moment wohnte, aber alle Straßen sahen gleich aus, und langsam begann sie zu
verzweifeln.
Der kalte Regen hatte ihr langes, dickes Haar, das ihr bis zu den knochigen
Hüften reichte, bald durchnässt. Kalix war dünn, sogar spindeldürr, nicht ein
Gramm Fett hatte sie in ihren siebzehn Lebensjahren angesetzt: eine Werwölfin
ohne Appetit. Ihre Familie hatte das wahnsinnig gemacht. Ihre Mutter hatte
früher ständig mit ihr diskutiert, sie regelrecht angefleht, etwas zu essen. Bis
letztes Jahr, als Kalix ihren Vater angegriffen hatte, den Herrn der Werwölfe.
Jetzt musste ihre Mutter sich um andere Dinge sorgen als um den mangelnden
Appetit ihrer Tochter, oder ihren Jähzorn, ihre Sucht oder ihre Verrücktheit.
Kalix' Haar war nie geschnitten worden und hing ihr bis zu den Hüften. Als der
Regen es gegen ihren Kopf klatschte, schauten ihre Ohren hervor. Sie sahen nie
ganz normal aus, nicht einmal in menschlicher Gestalt, so wie jetzt. Sie hatten
von Natur aus etwas Wolfsartiges an sich.
Kalix blieb stehen und schnupperte. Waren die Jäger in der Nähe? Sie konnte es
nicht sagen. Ihre Sinne waren abgestumpft. Sie lief weiter. Wenn die Jäger sie
jetzt erwischten, schwach wie sie war, würden sie sie vielleicht töten. Kalix
überlegte, wie der Tod wohl sein würde. Gut, dachte sie. Besser, als in einem
verlassenen Lagerhaus zu wohnen und zu betteln, um ihre Sucht stillen zu
können. Aber sie bedauerte, dass es ihr nicht gelungen war, ihren
Vater zu töten. Dann, dachte sie, hätte sie zufrieden sterben können.
Wenn sie sterben würde, dann allein. Kalix MacRinnalch war immer allein
gewesen. Sie hatte nie Freunde besessen. Sie hatte zwei Brüder, eine Schwester
und viele Cousins und Cousinen; alles Werwölfe, aber keiner davon ihr Freund.
Ihre Brüder hasste sie. Sie hasste sie fast so sehr wie ihren Vater. Ihre Schwester,
die Werwolfzauberin, hasste sie nicht. Für die empfand sie fast schon
Bewunderung. Hätte die Zauberin ihr auch nur einmal den Rücken gestärkt,
hätte Kalix sie vielleicht sogar gemocht. Aber die Zauberin hatte sich längst von
ihrer Familie distanziert und fand keine Zeit für eine Schwester, die so viele
Jahre nach ihr geboren worden war und die von klein auf dafür berüchtigt war,
Arger zu machen.
Allerdings hatte die Zauberin Kalix das Amulett geschenkt, das sie schützte, das
musste man ihr lassen. Solange Kalix das Amulett trug, war sie unauffindbar.
Sie konnte ungestört durch London streifen, ohne von Mitgliedern ihrer Familie
aufgespürt und zurück nach Schottland geschleift zu werden, um sich der
Vergeltung für den Angriff auf ihren Vater zu stellen. Ohne Jäger auf ihren
Fersen zu haben, die sie mit Silberkugeln töten wollten. Ohne bedroht zu
werden. Das war gut, solange es anhielt, aber natürlich verkaufte Kalix das
Amulett irgendwann, weil sie kein Geld mehr hatte. Und jetzt kamen ihre
Feinde bedrohlich nahe.
Kalix zog ihren zerrissenen Mantel eng um den dünnen Körper. Sie zitterte. Als
Kalix fünf Jahre alt war, konnte sie nackt durch den Schnee laufen, ohne die
Kälte zu fühlen. Jetzt war sie nicht mehr so zäh. Sie wünschte, sie wäre schon
wieder im Lagerhaus. Es war leer und kein bisschen gemütlich, aber immerhin
eine Art Zuflucht. Wenn sie dort ankam, konnte sie sich mit Laudanum abfüllen
und in tiefe Träume versinken. Nicht viele Menschen erinnerten sich noch an
Laudanum. Es war aus der Welt fast verschwunden. Aber für ein paar Werwölfe,
die ebenso herunterge
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kommen waren wie Kalix, war es noch zu bekommen. Ihrer Familie machte
Kalix damit noch größere Schande.
Hinter der nächsten Ecke erklangen Schritte. Kalix spannte ihren Körper an,
obwohl sie wusste, dass es nicht die Jäger waren. Nur zwei junge Männer, die
um Mitternacht nach Hause gingen. Sobald sie Kalix sahen, steuerten sie auf sie
zu, um sie aufzuhalten. Kalix versuchte, ihnen auszuweichen, aber die beiden
gingen schnell zur Seite, um sie abzufangen.
»He, Bohnenstange«, sagte einer der Männer, und beide lachten.
Kalix betrachtete sie voller Abscheu. Es machte sie wütend, dass betrunkene
Menschenmänner immer versuchen mussten, sie anzusprechen.
»So ganz allein auf dem Heimweg?«
Kalix hatte keine Zeit zu verlieren. Sie musste ihr Lagerhaus finden, bevor sie
vor Erschöpfung zusammenbrach. Sie knurrte. Selbst in menschlicher Gestalt
war Kalix' Knurren furchterregend, es klang so wölfisch und bedrohlich, dass es
unmöglich von einem so mageren Wesen kommen konnte. Die jungen Männer
erschraken bei dem grimmigen Geräusch, sprangen zur Seite und sahen Kalix
mit mulmigem Gefühl an, als sie an ihnen vorbeilief.
»Freak«, murmelten sie, aber leise, und gingen ihrer Wege.
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Nach sechzig Jahren in England und fast ebenso vielen in der Modebranche
hatte Thrix, die Werwolfzauberin, ihren schottischen Akzent weitgehend
verloren. Er klang nur noch durch, wenn sie vor Wut laut wurde. Aber dieser
Verlust störte Thrix nicht. Er schuf eine größere Distanz zwischen ihr und ihrer
Familie, und das war ihr nur recht. Schon beim Gedanken an ihren Vater, den
Fürs
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ten, der in der abgelegenen Wildnis Schottlands durch die Ländereien seiner
Burg streifte, schürzte sie verächtlich die Lippen.
Thrix hatte zwar nichts dagegen, eine Werwölfin zu sein, zudem ein Mitglied
der herrschenden MacRinnalch-Familie, aber sie gab sich nicht gerne mit
anderen ihrer Art ab. Sie bedeuteten nur Scherereien. Thrix ging der
Boshaftigkeit ihrer Onkel, den Ränken ihrer Mutter, den Intrigen ihrer Brüder
aus dem Weg. Der MacRinnalch-Werwolfclan konnte sich selbst zerfleischen,
solange er sie nur in Ruhe ließ.
Von allen schottischen Werwölfen war Thrix einzigartig. Sie war blond, schön,
besaß ein Modehaus und war eine mächtige Zauberin. Kein anderer Werwolf
konnte das alles von sich behaupten. Schon ihre prächtige blonde Mähne hatte
sie immer vom Rest des Clans abgehoben. Das machte sie eitel, was ihr
durchaus klar war.
Ein riesiger Spiegel bedeckte die Wand neben Thrix' Schreibtisch. Sie
betrachtete ihr Spiegelbild, während sie telefonierte.
»Cassandra, was machst du denn in Portugal? Du weißt doch, dass ich dich hier
für die Aufnahmen brauche.«
Thrix hörte zu, während das Model eine umständliche Geschichte über
verpasste Flugzeuge und unzuverlässige Fotografen erzählte.
»Na gut, Cassandra«, unterbrach sie. »Hört sich alles schrecklich an. Und jetzt
komm zurück nach London. Dein Ticket wartet am Flughafen auf dich.«
Thrix legte das Telefon hin. Models. Gut organisiert waren sie nicht gerade,
fand Thrix, aber im Großen und Ganzen mochte sie Models. Natürlich nicht so
sehr, wie sie Kleider mochte. Wie die Werwolfzauberin so versessen auf Mode
sein konnte, hatte ihre Familie nie verstanden.
Thrix las die Nachricht auf ihrem Schreibtisch. Ihre Mutter hatte angerufen.
Warum? Verasa erwartete doch wohl nicht, das Thrix sie besuchte. Thrix war
erst vor sechs Monaten auf Burg MacRin
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nalch gewesen, und ihre Mutter wusste, dass sie nie öfter als einmal im Jahr zu
Besuch kam.
Die Werwolfzauberin betrachtete sich im Spiegel. Man hätte sie auf dreißig
geschätzt, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger. Tatsächlich war sie fast achtzig
Jahre alt. Ihr jugendliches Aussehen kam nicht von der Zauberei. Die
MacRinnalchs waren sehr langlebig, und achtzig war für einen Werwolf noch
jung. Thrix genoss ihr Leben. Ihr Modehaus wurde immer angesehener. Wenn
alles nach Plan lief, würde sie eines Tages zu den ganz Großen in der
europäischen Modeszene gehören.
Was ihre Mutter wohl wollte? Thrix seufzte. Sie konnte noch so sehr versuchen,
sich vom Clan zu distanzieren; Verasa, die Herrin der Werwölfe, würde nie
zugeben, dass sie weg war. Ihr kam ein beunruhigender Gedanke. Ging es
vielleicht um Kalix? Eine Zeit lang hatte Verasa ständig wegen Kalix angerufen.
Sogar vor dem brutalen Angriff auf den Fürsten war das Leben für den jüngsten
Spross der Familie nie einfach gewesen. Thrix tat so, als würde sie das nicht
kümmern - sie hatte Burg MacRinnalch verlassen, lange bevor Kalix geboren
wurde —, und warum der Fürst und die Herrin der Werwölfe beschlossen
hatten, fast hundertfünfzig Jahre nach der Geburt ihres Ältesten noch ein Kind
zu bekommen, war ohnehin ein Rätsel - aber sie hegte durchaus Mitgefühl für
Kalix. Das Leben in einer schottischen Burg war nicht einfach. Zumindest nicht
für ein junges Mädchen. Kein Wunder, dass es Kalix wahnsinnig machte.
Eigentlich durfte Kalix keine Probleme mit der Familie haben. Schließlich hatte
Thrix ihr diskret den Anhänger zukommen lassen, der sie vor der Welt verbarg.
Selbst wenn sie sich in eine Werwölfin verwandelte und ihr Geruch am
stärksten war, wäre sie nicht zu finden. Sie war sicher und konnte tun, was sie
wollte, und soweit Thrix das sehen konnte, hieß das, sich bei der erstbesten
Gelegenheit selbst zu zerstören.
Ihre Assistentin meldete über die Sprechanlage den Anruf, auf
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den sie gewartet hatte. Von einem sehr angesagten Fotografen, den Thrix
unbedingt für ein anstehendes Fotoshooting buchen wollte. Sie schaltete die
Freisprechanlage ein und wollte gerade ihre ganze Überzeugungskraft
einsetzen. Bevor sie mit ihrer Rede loslegen konnte, wurde die Tür aufgestoßen.
Was unerwartet kam. Ann, ihre persönliche Assistentin, war nämlich viel zu
tüchtig, um unangekündigte Störungen zuzulassen.
»Bereite dich auf den Tod vor, verfluchte Zauberin.«
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