howard,_linda_-_auch_engel_mogens_heiss.rtf

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Auch Engel m?gen's hei?

             

Inhaltsverzeichnis

 

 
Buch

 

Autorin

 

Prolog

 

 
Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

 
Epilog

 

Danksagung

 

Copyright

 

 


             

Buch

 

Am Morgen ihres 34. Geburtstags beschließt Daisy Minor, Biblio-
thekarin in einem öden Nest und so sexy anzusehen wie ein Wörter-
buch, ihr Leben umzukrempeln. Sie zieht bei ihrer Mutter aus und
legt sich unter der stilkundigen Beratung ihres schwulen Freundes
Todd ein neues Styling zu. Ab jetzt ist keine Diskothek mehr vor ihr
sicher - und dem ehemaligen Mauerblümchen liegen die Männer zu
Füßen. Als sie eines Nachts auf dem Heimweg zufällig Zeugin eines
Verbrechens wird, gerät sie in die Schusslinie des Täters. Zum Glück
ist da Polizeichef Jack Russo, der Daisy schon lange vor ihrer Ver-
wandlung zum Partygirl äußerst anziehend fand …

 


             

Autorin

 

Linda Howard hat sich mit ihren historischen und modernen Ro-
manen, die mehrfach ausgezeichnet wurden, eine riesige Fan-
gemeinde erobert. Ihre größten Erfolge feiert sie jedoch mit ihren
Kriminalromanen. Sie lebt als freie Schriftstellerin mit ihrem Mann
auf einer Farm bei Alabama.

 


             

Prolog

Carmela umklammerte nervös ihre Jutetasche, in der sie ihr Kleid zum Wechseln, etwas Wasser und das kleine Lebensmittelpäckchen aufbewahrte, das sie sich für die Reise nach Norden, über die Grenze, zusammengespart hatte. Orlando hatte ihr eingeschärft, dass sie bis zu ihrer Ankunft in Los Angeles nicht anhalten konnten, weder zum Essen noch zum Trinken oder überhaupt. Sie hockte eingesperrt im Laderaum eines klapprigen Lasters, der so schaukelte und schwankte, dass sie hin und her geschleudert wurde, wenn sie auch nur eine Sekunde vergaß, sich in ihre Ecke zu pressen und ihre Beine halb gegrätscht in den Boden zu stemmen, wodurch allerdings jede Aussicht auf Schlaf zunichte gemacht wurde, weil sie, sobald sie ihre Muskeln auch nur ein bisschen entspannte, über die ungehobelte Holzpritsche des Laderaums purzelte. Carmela war vor Angst wie gelähmt, aber dennoch zu allem entschlossen. Als Enrique vor zwei Jahren weggegangen war, hatte er ihr versprochen, sie nachkommen zu lassen. Stattdessen hatte er eine Amerikanerin geheiratet, nur damit er nie wieder abgeschoben werden konnte, während Carmela allein zurückgeblieben war, mit zertrampelten Träumen und einem in Fetzen gerissenen Stolz. In Mexiko hielt sie nichts mehr; wenn Enrique in Amerika heiraten konnte, konnte sie das auch! Und sie würde sich einen reichen Amerikaner angeln! Schließlich war sie bildhübsch; das sagten alle. Wenn sie dann erst mit ihrem reichen Norteamericano verheiratet war, würde sie Enrique aufspüren und ihm eine lange Nase machen, bis er zutiefst bereute, dass er sie so belogen und betrogen hatte. Sie hatte große Träume, doch im Moment fühlte sie sich winzig klein, so durchgerüttelt auf der Ladefläche eines Lasters, der über eine Schlaglochpiste dahindonnerte. Sie hörte Metall krachen, als Orlando den Gang wechselte, und gleich darauf einen leisen Schmerzensschrei, als eines der anderen Mädchen gegen die Seitenverkleidung knallte. Außer ihr waren es noch drei Mädchen, alle so jung wie sie, alle voller Hoffnung auf ein besseres Leben als jenes, das sie in Mexiko zurückgelassen hatten. Sie hatten sich nicht miteinander bekannt gemacht, eigentlich hatten sie kaum ein Wort gewechselt. Alle vier malten sich heimlich die Gefahren aus, die ihnen drohten, und waren traurig und aufgekratzt zugleich: traurig, weil sie so viel zurückgelassen hatten, und aufgekratzt, weil ein besseres Leben auf sie wartete. Alles war besser als nichts, und im Moment hatte Carmela überhaupt nichts. Sie dachte an ihre Mutter, die vor sieben Monaten gestorben war, dahingerafft von lebenslanger mühseliger Arbeit und zu vielen Kindern. »Lass Enrique bloß nicht zwischen deine Beine«, hatte ihre Mutter immer wieder gepredigt. »Nicht bevor du seine Frau bist. Sonst heiratet er dich nicht mehr, und dann sitzt du mit deinem Baby da, während er sich ein anderes hübsches Mädel sucht.« Tja, sie hatte Enrique nicht zwischen ihre Beine gelassen, und er hatte sich trotzdem ein anderes Mädchen gesucht. Wenigstens war sie nicht mit einem Kind sitzen geblieben. Trotzdem hatte sie verstanden, was ihre Mutter gemeint hatte: Werde nicht so wie ich. Ihre Mutter hatte sich für Carmela etwas Besseres gewünscht, als ihr selbst vergönnt gewesen war. Carmela sollte nicht wie sie vorzeitig altern und ständig ein Baby auf dem Arm und ein zweites im Bauch herumschleppen müssen, bis sie schließlich mit noch nicht einmal vierzig Jahren starb. Carmela war siebzehn. Mit siebzehn hatte ihre Mutter bereits zwei Kinder gehabt. Enrique hatte nie begriffen, warum Carmela so gro?en Wert darauf legte, unber?hrt zu bleiben; auf ihre beharrliche Weigerung, mit ihm ins Bett zu gehen, hatte er abwechselnd grimmig und m?rrisch reagiert. Vielleicht war die Frau, die er in Amerika geheiratet hatte, ja zu mehr bereit gewesen. Wenn er nur darauf aus gewesen war, hatte er sie sowieso nie wirklich geliebt, grollte Carmela. Sollte er doch zur H?lle fahren! Sie w?rde sich nicht das Leben versauern, indem sie einem ? Vollidioten nachtrauerte! Sie versuchte, sich bei Laune zu halten, indem sie sich immer wieder vorsagte, dass in Amerika alles besser werden würde; alle meinten, dass es in Los Angeles mehr Jobs als Menschen gab, dass dort jeder ein eigenes Auto und einen Fernseher besaß. Vielleicht würde sie sogar beim Film landen und berühmt werden. Alle sagten, dass sie hübsch war, also war das durchaus möglich. Tatsache war jedoch, dass sie erst siebzehn und allein war und schreckliche Angst hatte. Eines der anderen Mädchen murmelte irgendetwas, wobei die Worte vom Dröhnen des Motors übertönt wurden, nicht aber das Drängen in ihrer Stimme. In diesem Augenblick begriff Carmela, dass die drei Mädchen genauso verängstigt waren wie sie. Sie war also nicht ganz allein; den Übrigen ging es nicht anders als ihr. Das war zwar keine große Hilfe, aber Carmela fühlte sich sofort mutiger. Sich mit einer Hand an der Verkleidung festhaltend, weil der Laster in diesem Moment von einer Spurrille zur nächsten schaukelte, schlitterte sie über das ungeschliffene Holz der Ladefläche, bis sie nahe genug war, um die Worte des Mädchens zu verstehen. Inzwischen war es Tag, und durch die Ritzen im Aufbau fiel so viel Licht, dass Carmela die Gesichter der Mädchen erkennen konnte. »Was ist denn?«, fragte sie. Das Mädchen rang die Hände in dem verwaschenen Stoff ihres Rockes. »Ich muss mal«, flüsterte sie mit vor Scham bebender Stimme. »Das müssen wir alle«, antwortete Carmela mitfühlend. Auch ihre Blase war so voll, dass es schon wehtat. Sie hatte das Gef?hl nach Kr?ften ignoriert, weil sie so lange wie m?glich hinausz?gern wollte, wozu sie irgendwann gezwungen sein w?rden. Dem Mädchen rollten Tränen über die Wangen. »Ich muss aber jetzt.« Carmela drehte sich Hilfe suchend um, doch die beiden anderen wirkten genauso ratlos wie das weinende Mädchen. »Dann bringen wir es eben hinter uns«, beschloss sie, weil sie die Einzige zu sein schien, die fähig war, einen solchen Entschluss zu fassen. »Erst mal suchen wir uns eine Stelle aus … dort.« Sie deutete auf die Ecke rechts hinten. »Da ist ein Spalt, durch den es ablaufen kann. Wir machen alle dorthin.« Das Mädchen wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Und wenn wir groß müssen?« »Ich hoffe, dass wir vorher ankommen.« Jetzt, wo die Sonne aufgegangen war, stieg die Temperatur im Laster spürbar an. Es war Hochsommer; falls Orlando nicht anhielt und sie hinausließ, konnte die Hitze sie irgendwann umbringen. Er hatte ihnen erklärt, dass sie nicht anhalten würden, bis sie ihr Ziel erreicht hätten, folglich mussten sie bald in Los Angeles ankommen. Sie hatte Orlando nur die Hälfte des üblichen Soldes gezahlt; wenn sie starb, musste er die andere Hälfte abschreiben. Normalerweise musste der volle Preis entrichtet werden, bevor der Coyote jemanden über die Grenze schmuggelte, aber weil sie so hübsch sei, hatte Orlando gesagt, würde er bei ihr eine Ausnahme machen. Die anderen Mädchen sahen genauso gut aus, begriff sie. Womöglich hatte er bei allen eine Ausnahme gemacht. Weil der Wagen so schaukelte, brauchten sie ihre vereinten Kräfte, um sich zu erleichtern. Carmela organisierte das Unternehmen. Der Reihe nach, sie selbst als Letzte, gingen sie in der betreffenden Ecke in die Hocke, während sich die anderen Mädchen gegen die Verkleidung des Laderaumes stemmten, um der Vierten Halt zu geben. Endlich sanken sie ersch?pft, aber sp?rbar erleichtert auf der Ladefl?che nieder und ruhten sich aus. Plötzlich, nach einem letzten heftigen Schlag, rollte der Laster ganz ruhig. Sie befanden sich auf einem Highway, erkannte Carmela. Einem Highway! Bestimmt waren sie bald in Los Angeles. Doch die Vormittagsstunden schleppten sich dahin, während die Hitze im Wagen immer unerträglicher wurde. Carmela gab sich Mühe, möglichst flach zu atmen, doch die anderen Mädchen hechelten, als könnten sie sich abkühlen, indem sie besonders viel Luft in ihre Lunge pumpten. Da diese Luft heiß war, erschien das nicht besonders logisch. Wenigstens würden sie, so wie sie schwitzten, nicht so bald wieder auf die Toilette müssen. Carmela wartete, so lange sie konnte, weil sie keine Ahnung hatte, wie weit sie noch fahren würden, doch schließlich hielt sie den Durst nicht mehr aus und zog die kleine Wasserflasche aus ihrer Leinentasche. »Ich habe noch Wasser«, sagte sie. »Es ist nicht viel, wir müssen gerecht teilen.« Sie sah allen nacheinander in die Augen. »Wenn eine von euch mehr als einen Schluck nimmt, bevor sie die Flasche weitergibt, kriegt sie eine geknallt. Also nur einen kleinen Schluck.« Unter ihrem grimmigen, finsteren Blick nahm jedes der Mädchen gehorsam einen kleinen Schluck und reichte anschließend die Flasche weiter. Irgendwie hatte Carmela dadurch, dass sie das Austreten organisiert hatte, die Rolle der Anführerin übernommen, und obwohl sie nicht besonders groß war, respektierten die anderen sie aufgrund ihrer Willenskraft. Als die Flasche bei ihr ankam, nahm Carmela ebenfalls einen kleinen Schluck und ließ sie anschließend noch einmal kreisen. Nachdem alle zwei Schluck genommen hatten, verschloss Carmela die Flasche wieder und stopfte sie zurück in ihre Tasche. »Ich weiß, dass es nicht viel ist«, sagte sie. »Aber ich habe kaum noch Wasser, und wir m?ssen eventuell noch l?nger damit auskommen.? Der Vorrat reichte höchstens noch für zwei Schluck pro Mädchen. Das war nicht viel, vor allem wenn sie jede Stunde durchs Schwitzen wesentlich mehr Wasser verloren. Vielleicht reichte es ja aus, um ihnen das Leben zu retten. Warum hatte eigentlich keines der anderen Mädchen daran gedacht, etwas zu essen oder zu trinken mitzunehmen?, überlegte sie wütend und kämpfte dann ihren Ärger nieder. Womöglich hatten sie einfach nichts, was sie mitnehmen konnten. So arm Carmela auch war, es hatte stets Menschen gegeben, die noch weniger besaßen als sie. Sie musste freundlich bleiben, in ihren Taten und in ihren Gedanken. Der Laster wurde langsamer, wie am Motorengeräusch zu erkennen war. Mit hoffnungsvoll leuchtenden Augen sahen sie sich an. Wenig später bog der Wagen vom Highway ab und hielt an. Der Motor wurde zwar nicht abgestellt, doch sie hörten, wie Orlando ausstieg und die Tür zuknallte. Schnell schnappte Carmela ihre Tasche und stand auf; da er gesagt hatte, sie würden auf gar keinen Fall anhalten, bevor sie Los Angeles erreicht hatten, mussten sie wohl am Ziel sein. Allerdings hatte sie sich die Stadt lauter vorgestellt; im Moment hörte sie nichts als das Grollen des Lastwagenmotors. Eine Kette rasselte, gleich darauf wurde das Rolltor des Lastwagens in den Schienen nach oben geschoben, und dann wurden sie von grellem Sonnenlicht geblendet, während ihnen ein Schwall heißer und gleichzeitig erfrischender Luft entgegenschlug. Orlando war nur ein schwarzer Schatten, der sich vor dem grellen Weiß abzeichnete. Die Augen abschirmend, stolperten die Mädchen nach hinten zur Ladeklappe und kletterten unbeholfen hinunter. Nachdem Carmelas Augen sich an die Sonne gewöhnt hatten, schaute sie sich um, weil sie erwartete … Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber zumindest eine gro?e Stadt. Hier jedoch gab es nichts als den Himmel und die Sonne und ?berall Gestr?pp und vom Wind zusammengetragene sandiggraue Erdverwehungen. Mit fragend aufgerissenen Augen sah sie Orlando an. »Weiter kann ich euch nicht bringen«, war seine Antwort. »Im Laster wird es zu heiß; ihr würdet darin krepieren. Mein Freund bringt euch an euer Ziel. Sein Wagen hat eine Klimaanlage.« Eine Klimaanlage! Zwar hatten in Carmelas kleinem Dorf einige Auserwählte ein Automobil gefahren, aber eine Klimaanlage hatte keiner von ihnen besessen. Der alte Vasquez hatte ihr voller Stolz die Hebel auf dem Armaturenbrett vorgeführt, über die einst kalte Luft aus den Lüftungsschlitzen gekommen war, aber die Anlage hatte schon längst den Geist aufgegeben, sodass Carmela nie wirklich Luft aus einer Klimaanlage gespürt hatte. Immerhin wusste sie, dass es so etwas gab. Und jetzt würde sie in einem Auto mit Klimaanlage fahren! Der alte Vasquez würde vor Neid platzen, wenn er das wüsste. Ein großer, schlanker Mann in Jeans und einem karierten Hemd kam hinter dem Laster hervor und auf sie zu. Er trug vier Flaschen Wasser im Arm, die er an die Mädchen verteilte. Das Wasser war so kalt, dass die Flaschen mit Kondenströpfchen überzogen waren. Die Mädchen tranken das Wasser in großen Schlucken, während der Mann sich mit Orlando auf Englisch unterhielt, das keines der vier Mädchen sprach. »Das ist Mitchell«, stellte Orlando ihn schließlich vor. »Ihr tut einfach, was er euch sagt. Er spricht genug Spanisch, dass ihr verstehen könnt, was er von euch will. Wenn ihr nicht gehorcht, findet euch die amerikanische Polizei und steckt euch ins Gefängnis, und dann kommt ihr nie wieder raus. Habt ihr verstanden?« Alle nickten ernst. Dann wurden sie flugs in den Camper-Aufsatz auf Mitchells großem blauem Pick-up verladen. Auf der Wagenpritsche lagen zwei zerkn?llte Schlafs?cke, au?erdem gab es einen kleinen Hocker mit einem Loch, der sich bei n?herem Hinsehen als Toilette herausstellte. Zum Stehen war der Camper-Aufsatz zu niedrig; sie konnten nur liegen oder sitzen, aber nach der schlaflos verbrachten Nacht war ihnen das egal. K?hle Luft und Musik, eine ungemein beruhigend wirkende Kombination, str?mten durch das ge?ffnete Heckfenster der Fahrerkabine in den Aufsatz. Kaum hatten sie die beiden Schlafs?cke ausgebreitet, sodass sich alle hinlegen konnten, waren die vier M?dchen eingeschlafen. Sie hätte nicht gedacht, dass es so irrsinnig weit nach Los Angeles sein würde, dachte Carmela zwei Tage später. Sie hielt es kaum mehr in dem Camper-Aufsatz aus, wo sie sich praktisch nicht bewegen und nicht aufstehen konnte. Sie dehnte ihre Muskeln, um sie so geschmeidig wie möglich zu halten, aber eigentlich wollte sie nur noch laufen. Sie war von klein auf ein lebhaftes Mädchen gewesen, und die Enge, selbst wenn sie unvermeidlich war, trieb sie zum Wahnsinn. Sie bekamen regelmäßig zu essen und Wasser zu trinken. Waschen hatten sie sich hingegen nicht können, weshalb alle ekelhaft rochen. Hin und wieder machte Mitchell auf einem verlassenen Parkplatz Rast und klappte die Heckklappe des Campers hoch, um die verbrauchte Luft hinauszulassen, doch blieb die Luft dauernd muffig, und das Gefühl von Erfrischung hielt nie lang vor. Bei ihren heimlichen Blicken durch das Heckfenster des Pick-ups hatte Carmela verfolgt, wie die menschenleere Wüste allmählich in flaches Weideland überging. Dann waren immer öfter Waldgebiete aufgetaucht, und heute, während des letzten Tages, waren sie durch Bergland gefahren: üppig, grün, sanft gewellt. Es gab Weiden, auf denen Rinder grasten, malerische Täler und dunkelgrüne Flüsse. Die Luft schmeckte fett und feucht und roch nach tausend verschiedenen Bäumen und Blumen. Und Autos! Es gab hier mehr Autos, als sie in ihrem ganzen bisherigen Leben gesehen hatte. Sie waren durch eine Stadt gefahren, die ihr riesengro? vorgekommen war, doch als sie Mitchell gefragt hatte, ob das Los Angeles sei, hatte er erwidert, nein, dies sei Memphis. Sie seien noch weit von Los Angeles entfernt. Amerika war wirklich unglaublich groß, dachte Carmela, wenn sie nach ihrer tagelangen Fahrt nach wie vor Los Angeles noch nicht erreicht hatten! Am späten Abend des zweiten Tages hielten sie endlich an. Als Mitchell die Heckklappe des Campers öffnete und sie ins Freie ließ, konnten sie sich kaum auf den Beinen halten, so lange hatten sie in der Enge gekauert. Er hatte direkt vor einem überlangen Wohnwagen angehalten; Carmela drehte sich um und hielt nach etwas Ausschau, das auf die Nähe einer Großstadt hindeuten würde, doch sie schienen weit weg von jeder Siedlung entfernt zu sein. Über ihnen funkelten die Sterne, und die Nachtluft vibrierte vom Zirpen der Insekten und den Rufen der Vögel. Mitchell sperrte die Tür des Wohnwagens auf und ließ die vier Mädchen eintreten, die im Anblick der luxuriösen Ausstattung allesamt leise aufseufzten. Es gab Polstermöbel, eine atemberaubende Küche mit rätselhaften, noch nie gesehenen Gerätschaften und ein Bad, wie sie es in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet hätten. Mitchell sagte, dass sie alle baden sollten, und überreichte jeder von ihnen ein lockeres Gewand aus dünnem Stoff, das über den Kopf gezogen wurde. Es würde ihnen gehören, erklärte er dazu. Sie waren fassungslos über so viel Freundlichkeit und außer sich vor Freude über die neuen Kleider. Carmela strich mit der Hand über den Stoff, der sich glatt und leicht anfühlte. Ihr Kleid war einfach wunderschön: weiß und überall mit kleinen roten Blumen bedruckt. Sie badeten nacheinander in warmem Wasser, das aus der Wand spritzte, und wuschen sich mit Seife, die nach Parfüm roch. Für die Haare gab es eine besondere Seife, eine flüssige Seife, die zu einem Schaumgebirge aufquoll. Und es gab f?r jede von ihnen eine eigene B?rste f?r die Z?hne! Als Carmela schlie?lich als Letzte aus dem Bad trat, weil die anderen M?dchen am Ende ihrer Kr?fte zu sein schienen, war sie sauberer als je zuvor in ihrem Leben. Die duftende und cremige Seife hatten sie so bezaubert, dass sie zweimal gebadet und zweimal die Haare gewaschen hatte. Irgendwann war kein warmes Wasser mehr aus der Spritze gekommen - inzwischen floss nur noch kaltes Wasser nach -, doch das war ihr egal gewesen. Es war so angenehm, wieder sauber zu sein. Sie war barfuß und hatte keine Unterwäsche zum Anziehen, weil ihre Sachen vollkommen verschmutzt waren, aber sie zog ihr sauberes neues Kleid an und drehte ihr feuchtes Haar im Nacken zu einem Knoten hoch. Im Spiegel sah sie ein hübsches Mädchen mit glatter brauner Haut, dunkel schimmernden Augen und einem vollen roten Mund, nicht zu vergleichen mit der verdreckten Gestalt, die ihr noch vor wenigen Minuten entgegengestarrt hatte. Die übrigen Mädchen lagen schon in tiefem Schlummer im Schlafzimmer, unter die Decken gekuschelt und in so kalter Luft, dass sich die Härchen an Carmelas Armen aufstellten. Sie machte noch einen Abstecher in den Wohnbereich, um Mitchell eine gute Nacht zu wünschen und ihm für alles zu danken. Im Fernseher lief ein amerikanisches Baseball-Spiel. Er sah auf, lächelte und deutete auf zwei mit Eis und einer dunklen Flüssigkeit gefüllte Gläser, die auf dem Tisch standen. »Ich habe dir was zu trinken gemacht«, sagte er, oder sagte er vermutlich, weil sein Spanisch wirklich kaum zu verstehen war. Er hob eines der Gläser hoch und nahm einen Schluck. »Coca-Cola.« Ah, das verstand sie! Sie nahm das Glas, auf das er deutete, und trank die kalte, süße, beißende Cola. Das kitzelnde Gefühl hinten in der Kehle war einfach wunderbar. Mitchell klopfte einladend auf das Sofa, darum setzte sie sich, allerdings ans andere Ende, so wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. Auch wenn sie todm?de war, w?rde sie ihm ein paar Minuten Gesellschaft leisten, aus reiner H?flichkeit und weil sie ihm wirklich dankbar war. Ein netter Mann, dachte sie, mit s??en, leicht traurigen braunen Augen. Er gab ihr ein paar Nüsse zum Knabbern, und plötzlich lechzte sie nach dem salzigen Geschmack, so als müsste ihr Körper das Salz ersetzen, das sie während des ersten Teils der Reise ausgeschwitzt hatte. Als sie danach noch mehr Coca-Cola brauchte, stand er auf und holte ihr noch eine. Eine seltsame Erfahrung, sich von einem Mann etwas bringen zu lassen, aber eventuell war das in Amerika so üblich. Vielleicht bedienten hier ja die Männer ihre Frauen. In diesem Fall bereute sie nur, dass sie nicht schon früher gekommen war! Die Müdigkeit überwältigte sie. Sie musste gähnen und entschuldigte sich sofort dafür, aber er lachte nur und meinte, das sei in Ordnung so. Irgendwie überstieg es ihre Kräfte, die Augen offen und den Kopf gerade zu halten. Immer wieder kippte ihr Kopf nach vorn, immer wieder riss sie ihn hoch, bis ihr irgendwann die Halsmuskeln nicht mehr gehorchen wollten und sie spürte, wie sie, statt den Kopf zu heben, langsam zur Seite glitt. Mitchell war sofort zur Stelle, half ihr, sich auszustrecken, bettete ihren Kopf auf das Kissen und hob ihre Beine auf das Sofa. Er streichelte sie immer noch an den Beinen, erkannte sie verschwommen, und sie versuchte ihm zu erklären, dass er damit aufhören sollte, doch kein einziges Wort wollte mehr über ihre Zunge kommen. Und dann berührte er sie zwischen den Beinen, wo noch niemand sie berührt hatte. Nein, dachte sie. Und dann wurde alles schwarz, und sie dachte überhaupt nichts mehr.


             

1

»Daisy! Das Frühstück ist fertig!« Die Stimme ihrer Mutter stieg jodelnd die Treppe herauf, in genau demselben Tonfall wie fast jeden Morgen, seit Daisy in die Schule gekommen war und Tag für Tag aus dem Bett gerissen werden musste. Doch statt aus dem Bett zu springen, blieb Daisy Ann Minor liegen und lauschte dem Regen, der gleichmäßig auf das Dach trommelte und am Gesims herabtropfte. Es war der Morgen ihres vierunddreißigsten Geburtstages, und sie hatte nicht die geringste Lust aufzustehen. Trübsinn, trostlos wie der Regen draußen, drückte sie in die Kissen. Sie war vierunddrei ßig Jahre alt, und dieser besondere Tag versprach nichts, worauf sie sich freuen konnte. Der Regen war nicht einmal ein ordentliches Gewitter voller Dramatik und akustischer Effekte, was ihr vielleicht noch gefallen hätte. O nein, es war einfach nur Regen, langweilig und trist. Der graue Tag spiegelte ihre Stimmung wider. Während sie so im Bett lag und die Tropfen am Schlafzimmerfenster herabrinnen sah, legte sich die Erkenntnis, dass ihr Geburtstag unabwendbar über sie hereingebrochen war, schwer und klamm wie eine nasse Wolldecke über sie. Ihr ganzes Leben lang war sie stets brav gewesen, und was hatte es ihr gebracht? Rein gar nichts. Sie musste der Wahrheit ins Gesicht sehen, so unattraktiv die auch war. Sie war vierunddreißig Jahre alt geworden, ohne je verheiratet oder auch nur verlobt gewesen zu sein. Sie hatte nicht eine einzige hei?e Aff?re erlebt - nicht einmal eine lauwarme. Die kurze Liebelei im College, auf die sie sich haupts?chlich eingelassen hatte, weil das dort so ?blich war und sie nicht abseits stehen wollte, konnte man guten Gewissens nicht als Beziehung bezeichnen. Stattdessen lebte sie mit zwei Witwen zusammen, ihrer Mutter und ihrer Tante. Ihr letztes Rendezvous hatte sie am 13. September 1993 gehabt, mit Wally, dem Neffen von Tante Joellas bester Freundin - und zwar, weil der seit mindestens 1988 mit keiner Frau mehr ausgegangen war. Das war vielleicht ein heißes Date gewesen: eine Verabredung gnadenhalber zwischen einer Hoffnungslosen und einem absoluten Fehlzünder. Zu ihrer immensen Erleichterung hatte Wally nicht einmal den Versuch unternommen, sie zu küssen. Es war der langweiligste Abend ihres Lebens gewesen. Langweilig. Das Wort traf sie mit unerwarteter Wucht. Sie hatte das bedrückende Gefühl, genau zu wissen, wie die Antwort ausfallen würde, falls jemand sie mit einem einzigen Wort beschreiben sollte. Ihre Kleidung war unauffällig - und langweilig. Ihr Haar war langweilig, ihr Gesicht war langweilig, ihr ganzes Leben war langweilig. Sie war eine vierunddreißigjährige, provinzielle, praktisch ungeküsste altjüngferliche Bibliothekarin, die, was ihren aufregenden Lebenswandel anging, genauso gut vierundachtzig hätte sein können. Daisy lenkte ihren Blick vom Fenster auf die Zimmerdecke; sie war einfach zu deprimiert, um aufzustehen und nach unten zu gehen, wo ihre Mutter und Tante Joella ihr zum Geburtstag gratulieren würden und wo sie lächeln und Freude heucheln musste. Natürlich würde sie irgendwann aufstehen müssen; schließlich hatte sie bis um neun in der Arbeit zu sein. Doch sie schaffte es einfach nicht, noch nicht. Gestern Abend hatte sie sich genau wie jeden Abend die Sachen zurechtgelegt, die sie am nächsten Tag anziehen würde. Sie brauchte nicht einmal auf den Stuhl zu schauen, um den marineblauen Rock vor sich zu sehen, der ihr ein paar Zentimeter ?bers Knie ging und damit zu lang und zu kurz war, um modern oder schmeichelhaft zu wirken, oder um die wei?e, kurz ?rmlige Bluse vor Augen zu haben. Selbst unter gr??ten M?hen h?tte sie es kaum geschafft, ein weniger aufregendes Ensemble zusammenzustellen - aber andererseits brauchte sie sich nicht abzum?hen; ihr Schrank war voll mit solchen Sachen. Unversehens schämte sie sich für ihr mangelndes Stilgefühl. Zumindest an ihrem Geburtstag sollte eine Frau doch ein bisschen heißer aussehen als sonst, oder? Doch dafür würde sie einkaufen gehen müssen, denn das Wort heiß passte auf kein einziges Stück in ihrer Garderobe. Nicht einmal beim Schminken konnte sie sich heute besondere Mühe geben, weil ihr gesamtes Make-up aus einem einzigen Lippenstift in einem fast unsichtbaren Farbton namens »Blush« bestand. Die meiste Zeit trug sie ihn sowieso nicht auf. Wozu auch? Eine Frau, die keinen Anlass hatte, ihre Beine zu rasieren, brauchte auch keinen Lippenstift aufzulegen. Wie um alles in der Welt hatte sie sich eigentlich in diese Sackgasse manövriert? Finster setzte sie sich im Bett auf und starrte quer durch ihr winziges Zimmer in den Spiegel über der Kommode. Das mausbraune, schnittlauchlockige Haar hing ihr ins Gesicht, bis sie es beiseite strich, um die hoffnungslose Existenz im Spiegel genauer in Augenschein nehmen zu können. Was sie sah, gefiel ihr ganz und gar nicht. Wie ein trübseliger Haufen hockte sie da, mit hängenden Schultern und in ihren blauen Seersucker-Schlafanzug gehüllt, der ihr eine Nummer zu groß war. Der Schlafanzug war ein Weihnachtsgeschenk von ihrer Mutter, die es ins Mark getroffen hätte, wenn Daisy ihn umgetauscht hätte. Im Rückblick fühlte Daisy sich ins Mark getroffen, weil sie so offensichtlich eine Frau war, der man einen Seersucker-Schlafanzug schenkte. Seersucker, Herrgott noch mal! Es sagte eine Menge über sie aus, dass sie eine Seersucker-Schlafanzug-Frau war. Keine sexy Negligés für sie, Gott bewahre! Für sie tat es auch ein Seersucker-Schlafanzug. Und warum auch nicht? Ihr Haar war fad, ihr Gesicht war fad, sie war fad. Es war einfach nicht zu leugnen: Sie war langweilig, sie war vierunddreißig, und ihre biologische Uhr tickte. Nein, sie tickte nicht nur, sie zählte unerbittlich Daisys Countdown herunter: zehn … neun … acht … Sie steckte bis zum Hals im Schlamassel. Dabei hatte sie vom Leben immer nur eines gewollt … ein Leben. Ein ganz normales, gewöhnliches Leben. Mit Mann, Kind und einem eigenen Haus. Und sie wollte SEX. Heißen, glitschigen, stöhnenden, Am-helllichten-Nachmittag-nackigherumwälz-Sex. Ihre Brüste sollten nicht nur dazu da sein, den BH-Fabrikanten ein Auskommen zu sichern. Sie hatte nämlich hübsche Brüste, wie sie fand: feste, hervorragende, hübsche C-Körbchen-Brüste, von denen kein Mensch außer ihr etwas ahnte, weil niemand sie je zu Gesicht bekam oder gar würdigte. Ein Trauerspiel. Noch trauriger war jedoch, dass sie nichts von dem bekommen würde, was sie sich ersehnte. Langweiligen, mausgrauen, faden altjüngferlichen Bibliothekarinnen blieb es verwehrt, dass jemand ihre Brüste bewunderte und pries. Sie würde einfach immer älter werden, immer fader und langweiliger, und ihre Brüste würden immer schlaffer werden, bis Daisy eines Tages sterben würde, ohne je am helllichten Nachmittag rittlings auf einem nackten Mann gesessen zu haben - es sei denn, etwas Einschneidendes würde passieren … zum Beispiel ein Wunder. Daisy ließ sich aufs Kissen zurückfallen und starrte von Neuem die Decke an. Ein Wunder? Vielleicht sollte sie lieber darauf hoffen, dass der Blitz einschlug. Sie wartete voller Spannung, doch es gab keinen Knall und auch keinen gleißenden Lichtblitz. Anscheinend konnte sie nicht mit Hilfe von »ganz oben« rechnen. Verzweiflung presste ihren Magen zusammen. Na gut, dann blieb nur noch sie selbst. Schlie?lich half der Herr am liebsten jenen, die sich selber halfen. Sie musste etwas unternehmen. Nur was? Aus der tiefen Schwärze ihrer Verzweiflung ersprühte ein Funken der Erleuchtung und brach sich in Form einer Eingebung Bahn: Sie musste aufhören, ein braves Mädchen zu sein. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihr Herz begann zu hämmern. Unwillkürlich ging ihr Atem schneller. Das hatte der Herr doch bestimmt nicht im Sinn gehabt, als Er/Sie/Es beschloss, die Angelegenheit in ihre Hände zu legen. Nicht nur, dass es eine ausgesprochen un-Herr-gemäße Idee war, sondern … sie wusste auch nicht, wie sie das anstellen sollte. Sie war ihr ganzes Leben lang brav gewesen; sämtliche Regeln und Vorschriften hatten sich tief in ihre DNA eingegraben. Aufhören, ein braves Mädchen zu sein? Was für eine wahnwitzige Idee. Die Logik diktierte, dass Daisy, wenn sie kein braves Mädchen mehr sein wollte, zum bösen Mädchen werden musste. Und das widerstrebte ihr zutiefst. Böse Mädchen rauchten, tranken, tanzten in irgendwelchen Bars und zogen durch fremde Betten. Das mit dem Tanzen mochte ja noch angehen - irgendwie sagte ihr die Vorstellung zu -, aber Rauchen kam gar nicht in Frage, Alkohol schmeckte ihr nicht, und was den Zug durch die Betten anging - ausgeschlossen. Das wäre geradezu wahnwitzig blöd. Aber - aber die bösen Mädchen schnappen uns alle Männer weg!, jaulte ihr Unterbewusstsein auf, angetrieben von der unerbittlich tickenden inneren Uhr. »Nicht alle«, widersprach sie laut. Sie kannte viele brave Mädchen, die geheiratet und Kinder bekommen hatten: all ihre Freundinnen, um genau zu sein, sowie ihre jüngere Schwester Beth. Es war also durchaus möglich. Leider schienen diese Frauen all jene Männer mit Beschlag belegt zu haben, die überhaupt an braven Mädchen interessiert waren. Und wer blieb übrig? Männer, die an bösen Mädchen interessiert waren, ganz genau. Das Ziehen in ihrer ...

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