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Der Verlust
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Ulrich Martens liebt seinen Beruf. Als Fremdenführer kommt er
täglich mit Hunderten von Menschen zusammen, denen er mit
listiger Ironie seine Heimatstadt Hamburg erklärt. Aber dann
trifft ihn ein Hirnschlag, während einer Tour durch die Stadt.
Erst kann er nicht mehr klar sehen, bald kommt ein Armkrampf
hinzu. Mit Mühe flüchtet er sich in die Wohnung seiner Freun-
din, aber noch während er zu erklären versucht, was ihm ge-
schieht, verliert er die Sprache... »Eine Liebesgeschichte, von
der Art allerdings, die uns ahnen läßt, wie vorläufig und wie
zerbrechlich das ist, was wir Glück nennen«, schrieb Franz
Josef Görtz in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹.
Siegfried Lenz, am 17. März 1926 in Lyck (Ostpreußen) gebo-
ren, begann nach dem Krieg in Hamburg das Studium der Li-
teraturgeschichte, Anglistik und Philosophie. Danach wurde er
Redakteur. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans ›Es
waren Habichte in der Luft‹ im Jahre 1951 zählt er zu den pro-
filiertesten deutschen Autoren. Heute lebt Lenz als freier
Schriftsteller in Hamburg.
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Siegfried Lenz
Der Verlust
Roman
Deutscher Taschenbuch Verlag
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Ungekürzte Ausgabe
Januar 1985
14. Auflage November 2002
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
www.dtv.de
© 1981 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlagbild: Studie zu ›Dirigent‹ von Michael Schreiber
Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen
Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany • ISBN 3-423-10364-7
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Es traf ihn unvorbereitet. Auf einem Parkplatz, nahe am Strom,
ließ Ulrich den Bus halten, hob das Mikrophon an den Mund
und forderte die Passagiere auf, sich der weißgrauen Bark
zuzuwenden, die gerade unter wenigen Segeln zur Mündung
hinabglitt. Es war ein Dreimaster, schlank wie ein Teesegler,
das Tuch leuchtete in der Sonne, und aus den Rahen grüßten
Matrosen in weißgewaschenem Drillichzeug. Die Passagiere
spähten durch die getönten Scheiben, und der Fremdenführer
erläuterte ihnen, was sie feierlich vorbeigleiten sahen: ein aus-
laufendes Schulschiff also, das einmal als schneller Tiefsee-
Segler gebaut worden war, einer der letzten Windjammer, die
sich mit Passat und Monsun gut gestellt hatten und nun dazu
dienten, Seemannschaft zu erlernen unter tausendsechshun-
dert Quadratmetern Segel.
Plötzlich sah Uli den Dreimaster doppelt. Noch bevor er die
Passagiere mit seiner eigenen Methode bekannt gemacht hat-
te, das Gehalt des Kapitäns zu errechnen, beunruhigte sich
das Bild vor seinen Augen und riß, riß in der Mitte durch. Das
ganze Panorama faltete und teilte sich, doch die beiden Hälf-
ten trieben nicht auseinander, sondern füllten sich nur in ei-
nem Augenblick auf, so daß er, verwirrt und ungläubig, auf
einmal alles doppelt vor sich sah: die lautlos gleitende Bark
und den fernen verankerten Bagger und das jenseitige, im
Dunst aufschwimmende dünne Ufer.
Ulrich glaubte da einen kleinen Schmerz zu spüren, ein Er-
schauern; er schluckte mehrmals, wischte sich über die Augen
und blickte stromaufwärts zu den zielstrebig kreuzenden Bar-
kassen und Schleppern: auch dieser Teil des Stroms erschien
ihm doppelt, ein sanft geriffeltes, übereinandergelegtes Band,
markiert von den gleichen roten Seezeichen, aufgerührt und
gequirlt von den gleichen Heckwassern. Er merkte, daß der
Fahrer zu ihm aufsah, er fühlte, daß die Passagiere der Gro-
ßen Stadtrundfahrt auf seinen Kommentar warteten, auf eine
seiner launigen Bemerkungen, für die sie bereits ein vorsorgli-
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